Der folgende Text war ein Beitrag zum Onlineforum "Das generische Maskulinum" der Universität Siegen. Das Onlineforum entstand als Folge des Vortrags "Das generische Maskulinum", den Dr. Dr. h.c. Navid Kermani am 12. Mai 2022 anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde hielt und der, wie kaum anders zu erwarten, im Rahmen der Festveranstaltung nicht erschöpfend diskutiert werden konnte. Das Forum ist bis Ende August 2022 offen zugänglich (nach Anmeldung), dort findet sich auch der sehr empfehlenswerte Text des Vortrags von Herrn Kermani.

Überschriften und Formatierungen wurden nachträglich hinzugefügt.



Udo Kelter
09.06.2022

Warum die Genderdeutsch-Debatte seit einer Generation nicht konvergiert

Erinnert sich noch jemand an das Binnen-I? Das Binnen-I ("LehrerIn") kam vor Jahrzehnten auf, als man das generische Maskulinum abschaffen wollte und die Doppelnennung der weiblichen und männlichen Form zu lästig wurde. Es wurde heiß diskutiert und fiel schließlich in Ungnade, ebenso die Schrägstrichschreibweise ("Lehrer/in"). In offiziellen Dokumenten wurden diese Schreibweisen genauso strikt verboten wie das generische Maskulinum. Bei der Formulierung von Prüfungsordnungen produzierte ich daher damals literarische Kleinode wie "Der oder die Vorsitzende, seine oder ihre Stellvertreterin oder sein oder ihr Stellvertreter leitet die Sitzungen des Prüfungsausschusses." Oder: "Die Diplomarbeit wird von zwei Prüfern, einem Prüfer und einer Prüferin oder zwei Prüferinnen durch schriftliche Gutachten bewertet."

Schon bei der Debatte um das Binnen-I bzw. die Doppelnennungen kamen praktisch alle Argumente vor, die ich in den folgenden 30 Jahren immer wieder gehört habe. Die Debatten führen offenbar nicht zu einer Konvergenz der Standpunkte. Statt die gleichen Argumente immer wieder zu wiederholen, scheint es sinnvoll, nach Gründen für das Nichtkonvergieren zu suchen.

Akteure in der Debatte

Wenn man sich die Teilnehmer an der Debatte, ihre Betroffenheit und die Kategorien ihrer Argumente ansieht, dann kann man mehrere Cluster unterscheiden:
  1. Schriftsteller, Übersetzer, Sprachästheten und diverse andere Textproduzenten: Diese Gruppe ist von den i.a. schlechteren Ausdrucksmöglichkeiten der gegenderten Sprachformen, den ästhetischen Kollateralschäden, der Entwertung vorhandener Literatur u.ä. Problemen betroffen.
  2. Linguisten, die sich typischerweise über die Unkenntnis des relativ komplizierten Genussystem im Deutschen (insb. bei den diversen Typen von Pronomen) bei Befürwortern des Genderdeutschs aufregen, auf die Schwierigkeiten bzw. die Unmöglichkeit hinweisen, beide Geschlechter durchgängig sprachlich zu repräsentieren, die stilistischen Folgen der neuen Semantik des Maskulinums und letztlich die Beschädigung des Genussystems. Ferner werden die erhofften Wirkungen der Sprachreformen diskutiert.
  3. Sprachlehrer und -Didaktiker, die typischerweise die zu erwartenden verstärkten Lernschwierigkeiten diskutieren. Diese Debattenteilnehmer setzen sich also für die Interessen von Lernbehinderten und Nichtmuttersprachlern, die selbst nicht an den Debatten teilnehmen können, ein, sind aber in der Rolle als Lehrer auch direkt betroffen. Der Beitrag von Herrn Florian Werner vom 05.06.2022 ist ein gutes Beispiel.
  4. Politiker, feministische Aktivisten, Politologen, Psychologen, Soziologen u.ä., die die Funktion gegenderter Sprache als Distinktionsmerkmal, als sozialer Marker, als Bekenntnis zu einer Ideologie (analog zum Amen in der Kirche), als Machtinstrument (analog zum Grüßen des Gesslerhuts) zur Konstruktion von Realität und zur Durchsetzung politischer Ziele usw. untersuchen oder praktisch einsetzen.
Diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, die Einträge sind nicht ganz überlappungsfrei. Einzelne Debattenteilnehmer argumentieren meist mit Argumenten aus mehreren Clustern. Der sehr schöne Vortrag von Herrn Kermani geht z.B. intensiv auf den 1. Themencluster ein, auf die anderen Cluster weniger intensiv.

Die Argumente in den Themenclustern und die darin vertretenen Interessen sind offensichtlich kategoriell verschieden und vielfach gegenläufig. Die nicht enden wollenden Debatten kann man leicht damit erklären, daß die meisten Debattenteilnehmer nur einen oder zwei Themencluster überblicken, die anderen Themencluster wenig bis gar nicht verstehen oder, wenn doch, dann den dort vertretenen Interessen geringe Priorität einräumen.

Machtverhältnis der Akteure und politische Agenden

So gesehen ist die Entscheidung, wessen Sachargumente letztlich dominieren, keine Sachfrage, sondern vor allem eine Machtfrage. Aus dieser Perspektive fällt die extreme Machtungleichheit zwischen dem 4. Cluster und den ersten drei Clustern ins Auge. Man kann die Debatten um das gegenderte Deutsch daher m.E. nur verstehen, wenn man die politischen bzw. ideologischen Ziele der Akteure im 4. Cluster und deren Macht einbezieht, deswegen gehe ich i.f. nur auf diese Perspektive ein.

Akteure sind hier i.w. die Inhaber von Machtpositionen in den Parteien und den Medien, insb. im Öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Sprache ist hier nur ein Aktionsfeld, und angestrebte Veränderungen in der Sprache und im Denken muß man in einen breiteren Kontext einordnen. In diesen Eliten hat die (gender-) feministische Ideologie heute einen praktisch hegemonialen Status. In seinem berühmten Buch "The blank slate" charakterisierte der Psychologe und Linguist Steven Pinker die Weltwahrnehmung dieser Ideologie, aus der sich deren politische Agenda ableitet, wie folgt [1, S. 293]:

  1. Unterschiede zwischen Männern und Frauen haben nichts mit der Biologie zu tun, sondern sind sozial konstruiert.
  2. Menschen haben nur ein relevantes soziales Motiv, nämlich Machtgewinn, und alles soziale Leben kann nur als eine Form von Streben nach Macht bzw. Machtausübung verstanden werden.
  3. Menschen interagieren nicht als Individuen, sondern immer als Vertreter des Kollektivs, dem sie angehören, hier also den Kollektiven der Männer bzw. Frauen.
Das hört sich auf den ersten Blick etwas zugespitzt an, ist aber die einzige plausible Erklärung für zahlreiche heute relevante Phänomene. Ein Beispiel ist die Forderung, daß Frauen einen Anspruch auf 50% der Sitze in Parlamenten haben: Damit wird negiert, daß Männer Frauen repräsentieren können oder wollen. Beide repräsentieren stets verfeindete Lager. (Damit wird eine ganz zentrale Annahme unserer Verfassung entsorgt, daß jeder Abgeordnete das ganze Volk vertritt und alle Menschen politisch gleichwertig sind.) Der Markenkern der Grünen ist das Frauenstatut, das realisiert ein Matriarchat, in dem Männer zu Bürgern zweiter Klasse gemacht werden. Es wird (kompensatorisch) als "geschlechtergerecht" gepriesen, weil überall sonst ein sog. Patriarchat, das Frauen benachteiligt, existiert.

Politische Rechtfertigungen des Genderdeutschs

Das Attribut "geschlechtergerecht" wird sehr häufig auch auf das gegenderte Deutsch angewandt, es ist in diesem übergeordneten Kontext zu interpretieren. "Gerechtigkeit" ist eine moralische Kategorie, die immer Subjekte unterstellt, unter denen es gerecht zugehen soll. Diese Subjekte sind hier "die Geschlechter", also die Kollektive der Männer und Frauen (und eventuell weiterer sexueller Orientierungen). Um Gerechtigkeit unter Individuen, z.B. innerhalb der Gruppe der Frauen, geht es hier nicht. Der Begriff "geschlechtergerecht" postuliert also implizit die Existenz und politische Relevanz dieser Kollektive.

In die gleiche Richtung zielt die sehr häufige Forderung, daß Frauen "sprachlich repräsentiert" werden müssen. Das ist, wenn man Sprache nur als Mittel zur Kommunikation versteht, ein Kategorienfehler, denn "Repräsentation" ist ein machtpolitischer Begriff. Auch hier wird implizit wieder ein Machtkampf zweier verfeindeter Kollektive postuliert.

Eine Kommentatorin in einem früheren Forumsbeitrag äußerte sich genervt darüber, daß die Doppelnennungen ständig die Unterschiedlichkeit von Männern und Frauen betonen, obwohl sie inhaltlich keine Rolle spielt und die Betonung nur ablenkt. Das ist kein Fehler, sondern ein Feature. Zumindest aus Sicht vieler Akteure des 4. Clusters ist die Erzeugung von Klassenbewußtsein gerade der Sinn und Zweck der Doppelnennungen bzw. Genderschreibweisen. Aus dieser Perspektive besteht interessanterweise auch kein Interesse am Ende der Debatte, denn die Debatte als solche verstärkt unabhängig von den Sachargumenten das Klassenbewußtsein. Dies ist ein Musterbeispiel, wie ein soziales Problem sozial konstruiert wird.

Daß Gender-Schreibweisen in erster Linie ein Machtmittel sind, erklärt auch das Paradox, daß das Binnen-I oder die Schrägstrichschreibweise als diskriminierend, die Schreibungen mit Genderstern, Tiefstrich, Doppelpunkt oder Trema hingegen als die einzig nichtdiskriminierenden erlaubt werden. Beide Klassen unterscheiden sich optisch fast nicht, die linguistischen Eigenschaften und die entstehenden Probleme sind praktisch identisch. Das einzige Merkmal einer Schreibweise, das für die Diskriminierungsfreiheit wichtig ist, ist der symbolischer Gehalt, das implizite Ideologiebekenntnis.

Wird das generische Maskulinum verschwinden?

Herr Kermani sagte voraus, das generische Maskulinum werde verschwinden. Offen bleibt der Zeitraum und die Schwelle, ab wann eine Sprachform als ausgestorben gilt. Vor gut 30 Jahren wurde der deutschen Sprachgemeinschaft von den Rechtschreibreformern, einer bizarren Koalition aus Linken, die (gute) Sprache als Ursache für soziale Differenzen ansahen und beseitigen wollten, und großkapitalistischen Verlegern eine Serie von Sprachumstellungen aufgezwungen. Ich bin geprägt von einer Jugend, in der die Erinnerung an den Nationalsozialismus noch sehr präsent war und man sich im kalten Krieg mit der Sowjetunion befand. Ich habe mich sehr viel mit den Methoden totalitärer Systeme befaßt, darunter Manipulationen an der Sprache. Daher war mir klar, daß ich das Neuschreib niemals benutzen würde. Damals las ich einen Bericht über eine ähnliche erzwungene Sprachumstellung in Norwegen, die nach einer Generation nicht zum Verschwinden der natürlich gewachsenen Sprache, sondern zu einer Koexistenz bzw. Spaltung der Sprachpraxis geführt hatte. Daß es in Deutschland ähnlich laufen würde, habe ich damals nicht vermutet. Jedenfalls habe ich den Text von Herrn Kermani auch in dieser Hinsicht sehr gerne gelesen

Vor diesem Hintergrund glaube ich nicht, daß das generische Maskulinum aussterben wird. Die diversen Gender-Schreib- und Sprechweisen werden Umfragen zufolge von 60 - 80% der Bevölkerung nicht benutzt oder sogar abgelehnt, weil sie unpraktisch und politisch aufgeladen sind. Das hindert die Tagesschau, die weitgehend von feministischen Frauen geleiteten Polit-Talkshows und große Teile der meinungsbildenden medialen Elite nicht, praktisch lückenlos zu gendern. Wegen der deutlichen Diskrepanz zur Alltagssprache wird der Sprachgemeinschaft aber die politische Absicht dahinter zunehmend bewußter. Insofern würde ich eher erwarten, daß die Wahl der Sprachform immer mehr zum Ausdruck ideologischer Überzeugungen wird, also gegenderte und natürlich entstandene Sprachformen langfristig parallel existieren werden.

Referenzen

[1] Steven Pinker: The Blank Slate: The Modern Denial of Human Nature. Penguin Books, 528 S., ISBN 978-0142003343, 2002