Ziel dieses Blogposts ist, die impliziten Definitionen von Wissenschaftsfreiheit in diesen Studien zu klären und zu vergleichen. Im Endeffekt stellt sich zum einen heraus, daß alle Studien "die Wissenschaftsfreiheit" im Sinne eines abstrakten Ideals nur partiell, vergröbert und/oder indirekt vermessen. Wichtiger aber sind grundlegend verschiedene Ansichten, welche realen Phänomene für die Wissenschaftsfreiheit wie relevant sind. Die Unterschiedlichkeit der impliziten Definitionen von Wissenschaftsfreiheit ist nicht offensichtlich, die Aussagekraft der Studien wird deshalb in der öffentlichen Debatte z.T. falsch eingeschätzt, insb. deutlich überschätzt (ohne damit den Wert der Studien infrage stellen zu wollen; das Problem liegt in der falschen öffentlichen Rezeption der Studien, nicht bei den Studien selber).
I.f. werden zunächst die Studien kurz vorgestellt, danach wird ein Begriffsrahmen präsentiert, in den die gemessenen Phänomene eingeordnet werden können. Mit Hilfe dieses Begriffsrahmens können dann die Studien verglichen und die unterschiedlichen Ergebnisse und deren Aussagekraft erörtert werden.
Die Wissenschaftsfreiheit schützt aber nicht nur die Äußerung von wissenschaftlichen Erkenntnissen, also die Lehrfreiheit, sondern auch die Gewinnung von Erkenntnissen durch wissenschaftliche Forschung, also die Forschungsfreiheit. Während also die Lehrfreiheit als Sonderfall der Meinungsfreiheit angesehen werden kann, gibt es für die Forschungsfreiheit gar kein Äquivalent in der Meinungsfreiheit. Meinungen müssen nicht durch eigene Forschungen begründet werden, sie werden häufig und völlig legitim durch Übernahme der Meinung von anderen Personen ("Vordenker"), denen man vertraut, gebildet.
Wissenschaftsfreiheit und Meinungsfreiheit sind konzeptuell verschieden, aber nicht unabhängig. Wo keine Meinungsfreiheit herrscht, herrscht wahrscheinlich auch keine Lehrfreiheit. Wo keine Wissenschafts- und/oder Lehrfreiheit herrscht, ist kein freier wissenschaftlicher Austausch möglich und der Sinn des Forschens infrage gestellt, also auch die Forschungsfreiheit mehr oder weniger stark beeinträchtigt.
Wichtig an dieser Stelle ist, daß die grundständige Lehre nicht der Lehrfreiheit unterliegt, d.h. die jeweiligen Inhalte und Lernziele einzelner Module eines Studiengangs können nicht vom Dozenten frei bestimmt werden. Dies ist ein weiterer Grund, warum die Gleichsetzung von Wissenschaftsfreiheit und akademischer Freiheit fragwürdig ist. Insb. erschwert dies die Unterscheidung, welche Einschränkungen der Lehre legal wegen der Ausbildungsfunktion bzw. die illegal wegen Verletzung der Lehrfreiheit (und damit zusammenhängend i.d.R. auch der Forschungsfreiheit) sind.
Auf Basis der vorstehenden Klärungen können wir hier schon festhalten, daß alle oben gelisteten Verfahren zur Messung der Wissenschaftsfreiheit, namentlich die beiden ersten, tatsächlich nur die akademische Freiheit messen und daß die Einschränkungen in Forschung und Lehre infolge der Ausbildungsfunktion praktisch nicht thematisiert werden.
Die Wissenschaftsfreiheit, vor allem die Forschungsfreiheit, schützt daher grundsätzlich das ganze gesellschaftliche Teilsystem, das diesen Prozeß der Wahrheitsfindung realisiert. Gaerditz (2018) bezeichnet es als Wissenschaftssystem.
Der Begriff Wissenschaftssystem ist insofern hilfreich, als er die Bedeutung der freien Kooperation und Kommunikation zwischen Wissenschaftlern für den Erkenntnisprozeß betont. Kritisch an diesem Begriff ist, daß es eine Ermessensfrage ist, welche Strukturen und Mittel über relativ triviale Kommunikationsmittel (e-mail, Telefon etc.) hinaus notwendig und unverzichtbar sind oder es zumindest wahrscheinlich machen, daß dieser Prozeß (selbst wenn man ihn auf den akademischen Bereich einschränkt) erfolgreich verläuft. Selbst wenn alle technischen und organisatorischen Voraussetzungen für einen wissenschaftlichen Austausch erfüllt sind, ist keineswegs garantiert, daß dieser Prozeß erfolgreich im Sinne guter ("korrekter") Erkenntnisse ist.
Der Begriff "erfolgreich" ist an dieser Stelle tückisch. Wissenschaftsfreiheit als Grundrecht ist durch die Erwartung motiviert, damit eine aufgeklärte, rationale Demokratie zu ermöglichen. Die Rolle der Wissenschaft besteht darin, soweit wie möglich objektive Fakten(5) zu liefern, auf die politische Debatten aufbauen können. Dieses Ziel wird vielfach durch politische Akteure konterkariert, die ihre alternativen Fakten in der öffentlichen Meinung verankern wollen und erschreckenderweise zum Teil regelrechtes Flacherdlertum in großen Teilen der Medien und der politischen Öffentlichkeit verankern konnten. In solchen Fällen ist das ganze Konzept der Wissenschaftsfreiheit und damit auch deren Messung sinn- und gegenstandslos geworden.
Auch in einer autonomen Hochschule gibt es Interessenkonflikte, namentlich bei der Verteilung vor Haushaltsmitteln, Planstellen und anderen Ressourcen. Mit der Forderung nach Autonomie ist die Annahme verbunden, daß innerhalb einer Hochschule demokratische Strukturen herrschen, also das akademische Personal einer Hochschule eine Demokratie im Kleinformat bildet, und in diesem Sinne legitime Entscheidungen getroffen werden(6). Dieses Ziel dürfte im großen und ganzen normalerweise erreicht werden, allerdings kommen willkürliche Entscheidungen durchaus vor. Beispiele, in denen die Wissenschaftsfreiheit betroffen ist, sind das Verbot von militärisch nutzbaren Forschungen (z.B. Waffentechnologien), das als "Zivilklausel" in den Grundordnungen mancher Universitäten verankert ist, oder das Verbot von Kooperationen mit Universitäten in Staaten, die gerade Angriffskriege gegen ihre Nachbarn führen. Etwas subtiler können Vorschriften wirken, die die Verwendung z.B. von Personalmitteln einschränken. Die Autonomie einer Hochschule gegenüber dem Staat impliziert keineswegs, daß ein einzelner Lehrstuhl oder Fachbereich autonom gegenüber der Hochschulleitung ist.
Im Rahmen der Einführung des Bachelor-/Mastersystems wurde vielfach das Paradigma der unternehmerischen Hochschule gepriesen, die als "Marke" in Konkurrenz zu anderen Hochschulen um talentierte Studenten und um Drittmittel steht. Gefördert wird das Paradigma der unternehmerischen Hochschule auch durch die Bedingungen großformatiger Forschungsförderung, z.B. die Sonderforschungsbereiche der DFG. Die hier zwangsläufig erforderliche zentralistische Planung von Forschung steht offensichtlich konzeptuell in diametralem Widerspruch zum Paradigma eines autonom entscheidenden Forschers.
Beim Vorhandensein solcher Einflüsse ist die Freiheit von Forschung und/oder Lehre faktisch nicht vorhanden oder stark reduziert. Im Rahmen der Drittwirkung der Grundrechte ist es Aufgabe des Staats, Machtmißbrauch oder Gewalt, die zu Verletzungen der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit führen, zu unterbinden. Dies ist indes nicht einfach. Ein zentrales Problem ist hier, daß Angriffe auf Wissenschaftler i.d.R. nicht innerhalb des oben postulierten Wissenschaftssystems mit den dort etablierten Debattenstandards stattfinden, sondern in der Öffentlichkeit, in der andere Spielregeln gelten und Entscheidungen viel weniger transparent sind. Je nach Fachgebiet sind derartige nichtstaatliche Bedrohungen der Wissenschaftsfreiheit weitaus wichtiger als eventuelle staatliche Bedrohungen.
Begriffe wie Hochschulautonomie erfassen diesen Problembereich überhaupt nicht und erfassen insofern nur einen Teil der Gesamtproblematik.
In vielen Staaten ist heute die Wissenschaftsfreiheit dem Buchstaben der Gesetze nach gegeben, also scheinbar alles in Ordnung. Viele Forscher haben trotzdem den Eindruck, bestimmte Dinge, die sie eigentlich tun wollen, besser zu unterlassen, weil ihnen andernfalls persönliche Nachteile drohen(8). Die resultierende Selbstzensur ist genauso wirksam wie eine staatliche Zensur. Beispiele hierfür sind soziale Drücke, sich politisch korrekt oder ideologisch erwünscht zu verhalten (z.B. durch Ideologiebekenntnisse in Form von Gender-Deutsch), oder durch politisch unterstützte Pseudowissenschaften, die man zwangsläufig falsifiziert, womit man den Haß von Aktivisten auf sich lenkt. Derartige Bedrohungen gehen nicht von staatlichen Instanzen aus, sondern z.B. von anonymen Mobs in den sozialen Medien oder von aktivistischen Kollegen. Solche außergesetzlichen Bedrohungen führen im Endeffekt dazu, daß man nicht mehr frei forschen kann und sich selber zensiert.
So gesehen ist Wissenschaftsfreiheit eine psychische Disposition. Sie entsteht durch Verarbeitung äußerer Eindrücke und hat sehr reale Auswirkungen auf den Forschungsprozeß eines einzelnen Forschers, bei flächendeckenden Bedrohungen auch auf den Erfolg des ganzen Wissenschaftssystems. Diese innere Freiheit ist eigentlich am wichtigsten.
Die beiden Länderstudien (Autonomy Scorecard und AFI) erfassen diese innere Freiheit von Forschern gar nicht direkt, sondern allenfalls sehr summarisch über den ersten Indikator. Dabei bleibt unklar, wie die Gutachter es schaffen sollen, die innere Befindlichkeit ganzer Forscherpopulationen korrekt zu beurteilen.
Beide Länderstudien zielen auch schon vom Namen her eher auf äußere Einflußfaktoren, die sich tendenziell negativ auf die innere Freiheit von Wissenschaftlern und den wissenschaftlichen Prozeß auswirken. Bei einigen dieser Einflußfaktoren ist unklar, wie sehr sie die effektive Forschungsleistung verschlechtern.
Wie in der obigen Diskussion gezeigt sind die akademische Freiheit und die Hochschulautonomie nur ein Teil eines ganzheitlich verstandenen Begriffs von Wissenschaftsfreiheit, allerdings unbestritten ein sehr wichtiger Teil. Insofern liefern beide Studien wichtige Erkenntnisse über die relative Gesamtsituation in verschiedenen Ländern. Beide Studien behandeln nichtakademische Forschung praktisch nicht, ebenso keine Bedrohungen der Wissenschaftsfreiheit durch hochschulinterne Akteure, bei nichtstaatlichen Akteuren ist unklar, inwieweit sie berücksichtigt werden.
Beide Länderstudien erfassen Einschätzungen der Hochschulautonomie bzw. der akademischen Freiheit in einem Land auf stark vergröbernden Skalen. Dies ist im Rahmen der Zweckbestimmung der Studien vertretbar und aus praktischen Gründen alternativlos. Letztlich werden so aber implizit Mediane (oder andere aggregierte Werte) über alle Hochschulen und alle Fächer hinweg gebildet. Nun sind in der Praxis die einzelnen Fächer sehr unterschiedlich von Angriffen auf deren Wissenschaftsfreiheit betroffen. Mediane oder ähnliche aggregierte Werte liefern keine Hinweise auf die konkreten Anlässe, die betroffenen Fächer und ggf. die Standorte und damit auch keine Hinweise, wie die Situation verbessert werden könnte. Daher ersetzen die Länderstudien keineswegs die detaillierteren Studien.
(1) Bei Spitzentechnologien wie z.B. Speicherchips oder neuen Medikamenten sind extrem hohe Forschungsinvestitionen im 9- bis 10-stelligen Bereich erforderlich, die die Finanzkraft öffentlicher Förderer übersteigen. Finanzierbar sind solche Forschungen nur noch über die wirtschaftliche Verwertung der Forschungsergebnisse.
(2) Für Großforschungseinrichtungen und andere öffentlich finanzierten Forschungseinrichtungen gilt dies nicht direkt. Allerdings kooperieren solche Einrichtungen häufig aus guten Gründen mit Hochschulen und beteiligen sich freiwillig in kleinerem Umfang an der Lehre.
(3) Vgl. hierzu den Popperschen Begriff "Verisimilitude", der implizit unterstellt, daß der Stand des Wissens grundsätzlich immer verbesserbar, also nie ganz perfekt ist.
(4) Ob das zutrifft, ist eine separate Diskussion wert. Jedenfalls liegt hier ein ganz wesentlicher Unterschied zur Bildung der öffentlichen Meinung bzw. zur politischen Willensbildung: diese hängt von Mehrheiten ab, und die zugrundeliegenden Meinungen können eklatant falsch oder Glaubenssache sein.
(5) "Objektiv" ist hier als frei von subjektiven oder ideologischen Einflüssen zu verstehen. Dies ist nicht mit "präzise" oder "eindeutig" zu verwechseln. Viele politisch interessierende wissenschaftliche Aussagen werden mit induktiver Statistik gewonnen, sind also immer mit Unsicherheit behaftet.
(6)
Dazu passend fordert die UNESCO (UNESCO (2019)) als ein wesentliches Element der Wissenschaftsfreiheit "eine öffentliche Grundausstattung und -förderung in Hochschulen und Forschungseinrichtungen, die keine Disziplinen diskriminiert". Über die Forderung als solche dürfte allgemeiner Konsens bestehen. Man kann sie relativ leicht aus dem Bildungsauftrag des Staates ableiten. Unklar ist, ob und in welchem Sinn man sie aus der Wissenschaftsfreiheit ableiten kann und inwieweit die Erfüllung dieser Forderung in Messungen der Wissenschaftsfreiheit einfließen sollte. Reisefreiheit bedeutet nicht, umsonst Bus und Bahn benutzen zu dürfen. Informationsfreiheit bedeutet nicht, umsonst Zeitungen lesen zu dürfen und für das Lesen sogar bezahlt zu werden. Allgemeiner kann man aus Freiheitsrechten keinen individuellen Anspruch auf die Ressourcen ableiten, die man für das geschützte Verhalten benötigt, oder sogar eine Bezahlung für das geschützte Verhalten.
Unabhängig davon, aus welchem Grundrecht man die Forderung in der UNESCO-Definition ableitet, ist zusätzlich unklar, welchen Instanzen sie Rechte einräumt bzw. Pflichten auferlegt. Wenn wir eine dem Staat gegenüber autonome Hochschule unterstellen, dann entscheiden nur noch Rektorat und Senat und damit indirekt alle Hochschullehrer über die Mittelallokation, nicht der Staat bzw. die Gebietskörperschaft, die die Hochschule finanziert. Die obige Forderung widerspricht grundsätzlich der ebenfalls geforderten Autonomie von Hochschulen. Inhaber eines Rechts auf diskriminierungsfreie Zuteilung von Ressourcen wären die jeweiligen Gruppen der Dozenten einer Disziplin. Kollektive sind aber keine Individuen und haben grundsätzlich keine Menschenrechte.
(7) Fachliche Kritik ist natürlich keine äußere Einwirkung in diesem Sinne.
(8) Bei den hier involvierten Themen besteht dieser Eindruck typischerweise nicht nur in der Wissenschaft, sondern generell in der Öffentlichkeit hinsichtlich der Meinungsfreiheit, s. Petersen (2021), Traunmüller (2023).