Kategorienfehler in Geschlechtsbegriffen und deren Folgen für die Wissenschaftsfreiheit
Udo Kelter
Stand: 28.06.2022





Einführung

Der Fall Kathleen Stock findet seit dem Sommer 2021 eine breite Resonanz in den Medien und hat zu mehreren Reaktionen aus dem Netzwerk Wissenschaftsfreiheit geführt. Er wird als wichtiges Beispiel für die Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit verstanden. Ich gehe hier der Frage nach, in welcher Form hier die Wissenschaftsfreiheit bedroht wird, ob es sich um mehr als ein Problem der Wissenschaftsfreiheit handelt und was die Ursachen sind.

Thesen zur Reichweite der Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit und zu den Frontverläufen

  1. Der Fall Stock und weitere ähnliche Fälle sind Teil eines viel umfassenderen Angriffs auf die Errungenschaften der Aufklärung und die Grundlagen einer liberalen Demokratie, die einen mündigen Bürger unterstellen, der sich vernunftgesteuert eine eigene Meinung bilden kann. Auch Journalisten, Künstler oder Politiker werden in gleicher Weise von vermutlich den gleichen Aktivistenkreisen angegriffen (s. u.a. den Harper's Letter [Ackerman 2020]" und die Debatte um die cancel culture).

    Man kann sogar noch weitergehen und hier von einem Angriff auf Grundlagen der menschlichen Existenz vieler Menschen sprechen, nämlich dem Selbstkonzept, sich grundsätzlich als ein biologisches Wesen zu betrachten, das durch die Rolle bei der biologischen Reproduktion genauso wesentlich definiert ist wie durch Körpergröße, Talente oder andere unabänderliche Merkmale (die Debatte hierzu schien eigentlich mit Pinkers Buch "The Blank Slate: The Modern Denial of Human Nature" entschieden zu sein).

    Insofern handelt es sich hier nicht nur um eine Gefährdung der Wissenschaft und der Wissenschaftsfreiheit, sondern um eine Gefährdung der ganzen liberalen, aufgeklärten Gesellschaft. Konsequenz hiervon ist, daß es nichts bringt, die Lösung der Probleme nur in der Wissenschaft zu suchen.

  2. Die Angriffe erfolgen auch aus der Wissenschaft heraus. Die offensichtlich illegalen Mobbingaktionen Außenstehender werden konzeptuell unterstützt - man kann es auch als geistige Brandstiftung ansehen - von Teilen der Wissenschaft (genauer gesagt als WissenschaftlerInnen offiziell akkreditierten Personen auf Stellen, die auf politischen Druck hin entstanden sind, um einer Ideologie eine wissenschaftliche Begründung zu verschaffen). Die Personen können sich wiederum auf ihre Wissenschaftsfreiheit berufen. Ein Teil des Zermürbungskriegs gegen Stock und ähnliche Betroffene kann deshalb als legale Wissenschaftsdebatte bzw. Streit zwischen Denkschulen verortet werden und verleiht den illegalen Aktionen das Image, zumindest das Richtige erreichen zu wollen, nur mit falschen Mitteln.

    Für Außenstehende bzw. die politische Öffentlichkeit ist die Grenze zwischen einerseits legaler Kritik und andererseits Mobbing bis hin zur Anstiftung von Straftaten in solchen Fällen schwer zu unterscheiden.

  3. Dies kein gewöhnlicher Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit, sondern ein viel grundsätzlicherer. "Gewöhnliche" Formen von Wissenschaftsfeindlichkeit richten sich primär die vorhandenen oder befürchteten Ergebnisse und Auswirkungen der Forschungen (Atomenergie, Waffentechnik, Gentechnik, Künstliche Intelligenz u.a.) und betreffen nur eine Wissenschaft. Die hier vorliegende Wissenschaftsfeindlichkeit greift hingegen in erster Linie die ganz elementare Begriffsbildung auf Basis einer objektiven Realitätswahrnehmung an. Allgemeiner gesagt also die Methoden, wie Begriffe gebildet werden und wie überhaupt wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden. Eine objektive Realitätswahrnehmung und die darauf basierende Begriffsbildung ist aber so elementar, daß sie in allen möglichen Wissenschaften (und natürlich auch außerhalb der Wissenschaften) zwingend notwendig ist.

  4. Die Forderungen der Transaktivisten laufen teilweise auf eine völlig Ausschaltung jeglicher Rationalität und Vernunft hinaus und verlangen von der Öffentlichkeit, Aussagen gleichzeitig als wahr anzuerkennen, die offensichtlich in sich widersprüchlich sind (Beispiele s.u.). Dieser dystopischer Zustand ist offensichtlich ein massiver Eingriff in das elementare Freiheitsrecht jedes mündigen Bürgers, logisch zu denken.

Vorbemerkungen zur Präzision von Begriffen

Da es sich hier um einen Begriffskrieg handelt, kommt man nicht umhin, zu versuchen, die Begriffe zu klären, wobei man sich über seine Methoden klar sein sollte, wie man konsistente Begriffe bildet.

Ich verwende hier einen informatischen Zugang zur Materie, genauer gesagt einen softwaretechnischen Zugang. In der Softwaretechnik geht es u.a. um die Analyse der Anforderungen eines Kunden an ein zu entwickelndes Informationssystem, das betriebliche Vorgänge vollständig automatisiert oder Sachbearbeiter dabei unterstützt. Hierzu müssen (etwas vereinfacht betrachtet) alle voraussichtlich auftretenden Details schon vor der Realisierung der Software exakt spezifiziert werden. Dementsprechend zielen softwaretechnische Begriffs- bzw. Datenanalysen auf eine frühzeitige, genaue und detaillierte Spezifikation der Daten.

Diese Haltung unterscheidet sich erheblich von der Begriffsbildung -und Verwendung in Gesetzen und politischen Debatten (ggf. auch in der Philosophie). Dort arbeitet man aus plausiblen Gründen eher mit vagen, informell definierten und weit anwendbaren Begriffen und verschiebt Detailbetrachtungen auf einen späteren Zeitpunkt. Hierauf gehe ich nach der informatischen Begriffsanalyse näher ein.

Transsexualität als Nötigung zur Akzeptanz innerer Widersprüche

Grundlegende biologische Geschlechtsbegriffe

Bevor man Transsexualität genauer definieren kann, muß man zunächst biologische Geschlechtsbegriffe einführen. Bei biologischen Geschlechtsbegriffen basiert die Definition von Geschlechtskategorien auf biologischen, objektiv meßbaren Merkmalen von Menschen.

Menschliche Fortpflanzung ist nur möglich, indem eine Eizelle mit einer Samenzelle (beide sog. haploide Keimzellen, die nur einen einfachen Chromosomensatz haben) vereinigt wird. Menschen können höchstens einen der beiden Keimzelltypen herstellen. Funktionsfähige Keimzellen entstehen nämlich in komplexen, hormonell gesteuerten biochemischen Prozessen, für die neben den ins Auge fallenden Eierstöcken bzw. Hoden umfängliche biologische Strukturen benötigt werden. Dementsprechend basiert die grundlegendste biologische Geschlechtsklassifikation auf der Fähigkeit, Eizellen bzw. Samenzellen zu produzieren.

Die erwähnten biologischen Strukturen für die Produktion der Keimzellen und für die natürliche Befruchtung sind notwendige (aber nicht immer hinreichende) Voraussetzung für die Fortpflanzung, sie werden als primäre Geschlechtsmerkmale bezeichnet. Diese sind teilweise äußerlich erkennbar (namentlich B. Vulva, Vagina, Hoden und Penis). Aus deren Vorhandensein kann mit sehr hoher Zuverlässigkeit auf das Vorhandensein der weiteren Strukturen geschlossen werden, und zwar schon direkt nach der Geburt und auch bei einer Leiche. In der Praxis werden Menschen fast nur anhand der sichtbaren primären Geschlechtsmerkmale als männlich oder weiblich klassifiziert, nicht danach, ob sie tatsächlich Ei- bzw. Samenzellen produzieren können (was ohnehin nicht vor der Pubertät und ggf. nicht mehr im Alter möglich ist).

Zusätzlich für die Klassifizierung ausgenutzt werden oft sekundäre und tertiäre Geschlechtsmerkmale (z.B. Bartwuchs oder weibliche Brust), die zwar u.a. für die sexuelle Attraktion wichtig sind, die aber für die Fortpflanzungsfähigkeit nicht entscheidend sind. Das Gesamtbild dieser sekundären und tertiären Geschlechtsmerkmale wird auch als männlicher bzw. weiblicher Phänotyp bezeichnet.

Obwohl sich die hier erwähnten biologischen Geschlechtsbegriffe (Keimzellen- bzw. Phänotyp-basiert) formal unterscheiden, weil sie auf verschiedene körperliche Merkmale zurückgreifen, unterscheiden sie sich praktisch nicht im Ergebnis der Klassifikation von Menschen in die drei Kategorien männlich, weiblich und "divers" (= nicht eindeutig als männlich oder weiblich klassifizierbar). Sie können daher als äquivalent angesehen werden.

Transidentität

Unter Transidentität verstehe ich i.f., daß die sexuelle Identität einer Person (das Geschlecht, dem sie sich selber zuordnet, als das sie sich empfindet) nicht identisch mit ihrem aktuellen Phänotyp (männlich bzw. weiblich) ist. Diese Nichtübereinstimmung verursacht eine gravierende Depression ("Geschlechtsdysphorie"), die wegen der Suizidgefahr als reale, lebensgefährliche Bedrohung angesehen wird.

Innerer Widerspruch Nr. 1: gleichzeitige Ablehnung und Benutzung des biologischen Geschlechtsbegriffs

Viele aktivistische Transidente (sowie Transaktivisten, die selber nicht transident sind) bestreiten jegliche Relevanz des biologischen Geschlechtsbegriffs und versuchen, die Benutzung des biologischen Geschlechtsbegriffs - z.B. die Äußerung, eine Transfrau sei biologisch ein Mann - zu tabuisieren oder gesetzlich zu einer Straftat zu machen. Vielfach wird behauptet, biologische Geschlechtsbegriffe seien sozial konstruiert, also willkürlich und daher irrelevant. Die Benutzung biologischer Geschlechtsbegriffe sei nur als Aggression gegen Transidente verstehbar, also "transphob".

Hier liegt ein ganz gravierender und folgenreicher innerer Widerspruch vor: die Definition der Transidentität basiert selber wesentlich auf dem biologischen Geschlechtsbegriff. Wenn in der Definition von Transidentität von einem vorhandenen und einem gewünschten Geschlecht die Rede ist, wird "Geschlecht" als männlicher bzw. weiblicher Phänotyp verstanden. Auch die gewünschten "geschlechtsangleichenden" Therapien zielen darauf, die physischen, vor allem die äußerlich sichtbaren Geschlechtsmerkmale gemäß dem gewünschten Phänotyp in etwa herzustellen bzw. vorhandene unerwünschte Geschlechtsorgane zu amputieren.

Innerer Widerspruch Nr. 2: Änderung einer "Zuweisung" durch physische Änderungen

Den inneren Widerspruch Nr. 1, der aus der Tabuisierung biologischer Geschlechtsbegriffe folgt, haben auch Transaktivisten erkannt. Daher wird inzwischen in der Definition von Transidentität der Bezug auf den Phänotyp strikt vermieden und stattdessen Bezug genommen auf ein "bei der Geburt zugewiesenes Geschlecht", das nicht mit dem gewünschten bzw. "tatsächlichen" Geschlecht übereinstimmt.

Der Begriff "zugewiesen" unterstellt, daß es sich um eine willkürliche Zuweisung handelt und nicht um eine auf objektiven Sachverhalten basierende Klassifikation. Er appelliert unterschwellig an die klassische feministische Hypothese, daß die Gesellschaft den Menschen Geschlechterrollen zuweist, die nicht biologisch zu rechtfertigen sind. Die Definition läßt offen, wie "Geschlecht" beim "gewünschten/tatsächlichen Geschlecht" zu verstehen ist.

Der Begriff "zugewiesen" unterstellt ferner, daß das Ergebnis dieser Zuweisung irgendwie zeitlebens an der Person anhaftet, z.B. mittels einer umfassenden Bürokratie wie den deutschen Standesämtern. Tatsächlich dürfte in vielen Fällen aber unbekannt sein, was genau bei der Geburt oder unmittelbar danach passiert ist, ob ein Standesamts- oder Krankenhausformular zur Hand war, auf dem man etwas ankreuzen konnte, wer genau befugt war, die Zuweisung vorzunehmen usw. Wenn man die Definition ernst nimmt, dann haben Menschen in Ländern, in denen es keine Standesamtsbürokratien und Personalausweise gibt, kein Geschlecht, sie könnten es auch nicht selber autonom bei sich nachträglich bestimmen und nicht transident sein.

Wenn man die offensichtliche Absurdität des auf Zuweisung basierenden Geschlechtsbegriffs ignoriert und die Zuweisung als entscheidendes definitorisches Kriterium akzeptiert, führt das zu einem neuen inneren Widerspruch: Eine Zuweisung kann prinzipiell nur durch eine erneute Zuweisung aufgehoben, z.B. durch einen formellen Akt im Einwohnermeldeamt, im Krankenhaus oder bei einem Notar, in dem ein dazu Befugter der transidenten Person das gewünschte Geschlecht in einer Zeremonie zuweist und dies fälschungssicher dokumentiert und archiviert. Tatsächlich wird von transidenten Personen aber keine neue Zuweisung verlangt, sondern eine Veränderung des Phänotyps. Diese physische Änderung ist keine Zuweisung, sie kann daher eine frühere Zuweisung nicht aufheben oder korrigieren.

Transsexualität

Unter Transsexualität verstehe ich i.f., daß eine transidente Person eine körperliche Transition ganz oder teilweise vorgenommen hat, üblicherweise durch Hormonbehandlungen und/oder chirurgische Eingriffe. Eine Transition geht nur langsam vonstatten und kann mehrere Jahre beanspruchen, d.h. über lange Zeiträume dominiert noch der ursprüngliche Phänotyp.

Die Behandlungen (insb. mit Hormonen) müssen i.d.R. lebenslänglich fortgesetzt werden, weil sonst der biologische Phänotyp zurückkehrt. Insofern ist es nicht trivial zu entscheiden, wann das Ende einer Transition erreicht ist, man kann es jedenfalls nicht einfach mit einem Ende aller Behandlungen gleichsetzen.

Ziel der Transition ist grundsätzlich, einen Phänotyp gemäß dem gewünschten Geschlecht zu erhalten und von uninformierten Dritten dementsprechend als Mann oder Frau klassifiziert und behandelt zu werden. Da die Wirkung der Behandlungen nicht schlagartig eintritt, sondern graduell, werden während der Transformation langfristig körperliche Zustände durchlaufen, die nicht mehr eindeutig als Phänotyp Mann oder Frau klassifiziert werden können. Bei ungünstigen körperlichen Voraussetzungen, z.B. große, breitschultrige biologische Männer oder kleine Frauen mit ausgeprägt weiblichem Knochenbau, ist der gewünschte andere Phänotyp praktisch gar nicht ausreichend approximierbar. D.h. unbeteiligte Dritte erkennen während der Transition und bei ungünstigen Voraussetzungen auch lange "danach" selbst bei nur flüchtiger Bekanntschaft sehr schnell, daß es sich um eine transsexuelle Person handelt. Grundsätzlich wird eine Aufdeckung der Transsexualität umso wahrscheinlicher, je enger man Kontakt zu einer transsexuellen Person hat.

Hinsichtlich des Erfolgs von Transitionen kann man in den ideologischen Debatten um die Transsexualität zwei "idealtypische Fälle" beobachten, die als der Normalfall unterstellt werden, während der andere Fall als irrelevant betrachtet und ignoriert wird:
  1. erfolgreiche Transition: Die Transperson wird von ihrer sozialen Umwelt nur noch als der gewünschte Phänotyp klassifiziert und entsprechend als biologischer Mann bzw. Frau behandelt (insoweit Männer und Frauen verschieden behandelt werden). Diese Annahme liegt offenbar dem Offenbarungsverbot im neuen Selbstbestimmungsgesetz zugrunde.
  2. nicht ausreichend erfolgreiche Transition: Die Transperson wird auch bei oberflächlicher Kenntnis nicht als männlicher bzw. weiblicher Phänotyp klassifiziert, erhebt aber den Anspruch. Dies wird von der Umwelt i.a. als Täuschungsversuch gewertet.
Wie häufig die beiden Fälle sind, ist schwer zu sagen. Die Fälle (a) werden gerade nicht als solche erkannt, die betroffenen setzen auch alles daran, nicht erkannt zu werden. Deren Häufigkeit wird also leicht unterschätzt. Wahrnehmbar sind fast nur die Fälle (b), was zur falschen Verallgemeinerung führen kann, es gäbe nur die Fälle (b).

Innerer Widerspruch Nr. 3: Offene Transsexualität

Ähnlich zum vorstehenden Fall (b), aber von einer eigenen Qualität ist die "offene Transsexualität" von Personen, die sich freiwillig als transsexuell outen bzw. dies offen als ihr Selbstverständnis herausstellen. Die aus den Medien bekannten Beispiele ([Diamond 2021], [RTL 2021]) sind Prominente, oft selber Transaktivisten. Ob eine Transition hier erfolgreich war oder ggf. gar nicht versucht wurde, ist sekundär. Offen transsexuelle Personen verlangen einerseits von ihrer Umwelt, als z.B. "Frau" klassifiziert und behandelt zu werden. Gleichzeitig teilen sie ihrer Umwelt mit, keine "biologische Frau" zu sein. Im Endeffekt verlangen sie von ihrer Umwelt eine schizophrene Wahrnehmung, zugleich Frau und nicht Frau zu sein. Wer nur logisch denken kann, denkt besser nicht über diesen inneren Widerspruch nach und schaltet sein Gehirn in dieser Angelegenheit ab.

In eine ähnliche Richtung gehen weniger krasse Fälle, in denen sich Transidente nicht ernsthaft bemühen, ihren Phänotyp zu ändern, sondern z.B. nur die typische Kleidung des anderen Geschlechts tragen oder sich irgendwelchen Stereotypen gemäß verhalten. Ein offensichtlicher Grund dafür ist, daß die medizinischen Eingriffe sehr belastend sind und extrem gefährliche Kollateralschäden verursachen. Das Risiko, in den Folgejahren zu sterben, steigt drastisch an, s. [Newgent 2020].

Begrifflich bleibt beim expliziten oder konkludenten Outing als transsexuell vor allem rätselhaft, was "Frau" hier noch bedeuten soll (analog bei "Mann"). Da offen Transsexuelle selber zwischen (biologischen) Frauen und Transfrauen unterschieden und sich als Transfrauen/-männer präsentieren, sind Transfrau und Transmann offenbar eigenständige Geschlechtskategorien. Dies ist insofern völlig plausibel, als die Transidentität und ggf. Transition in der eigenen Biographie eine zentrale Rolle einnehmen.

Ein entsprechender Geschlechtsbegriff müßte also die 4 Geschlechter Mann, Transmann, Frau und Transfrau unterscheiden. Dies widerspricht aber wiederum dem binären Geschlechtsbegriff, der der Definition von Transidentität zugrunde liegt. Es widerspricht auch der endlos oft gehörten Parole "eine Transfrau ist eine Frau". Offene Transsexualität ist damit insgesamt ein besonders krasser innerer Widerspruch.

Ein softwaretechnischer Ansatz zur Bildung von Geschlechtsbegriffen

Wenn man sich den aufgeheizten Debatten um den Geschlechtsbegriff vom eher emotionslosen Standpunkt eines Informatikers, der im Kundenauftrag Informationssysteme realisiert, nähert, fällt einem sofort ein gravierender Kategorienfehler in den Debatten auf, nämlich die Unterstellung, "Mann" und "Frau" seien universelle Geschlechtskategorien. Aufgrund dieses Fehlers sind sehr viele Aussagen sinnlos (oder man schließt wie [Steinhoff 2021] darauf, daß die Autoren nicht wissen, wovon sie reden).

Methodische Einordnung

Wie schon gesagt nehme ich hier Standpunkt eines Softwaretechnikers ein, der im Kundenauftrag Informationssysteme mit Datenmodellen modelliert. Hier natürlich ein Informationssystem, das Informationen über eine Kollektion von Personen verwaltet, deren Geschlecht in irgendeiner Weise für den Kunden von Interesse ist. Es geht nicht darum, die Interessen des Kunden zu kritisieren, sondern zu verstehen, was er will und wozu er die Informationen braucht.

Dieser Standpunkt ist linguistisch (oder ggf. sogar philosophisch) inspiriert, denn er unterstellt, daß der Kunde Informationen verwalten möchte, für die es einen realen Bedarf gibt und die er irgendwie ausnutzt. Bei diesem Standpunkt ist die Frage irrelevant, wer überhaupt Geschlechtsbegriffe bilden darf und ob man andere zwingen darf, diese Begriffe zu benutzten. In anderen Kontexten, namentlich in Begriffskriegen, ist diese Frage sehr virulent und ggf. der unterschwellige Hauptstreitpunkt.

Das softwaretechnische Analyseinstrumentarium zielt darauf und liefert Methoden dafür, die real existierende Informationsbedarfe des Kunden genau zu verstehen, insb. die Verwendung der Informationen in operativen Funktionen, die ein Informationssystem unterstützen soll. Diese technischen Funktionen entsprechen indes meist Arbeitsschritten, die bisher manuell ausgeführt wurden, also realen Funktionen und Handlungsmustern. In diesem Sinne sind sie Ergebnisse empirischer Beobachtungen.

Wegen dieser empirischen Bezüge ähnelt eine softwaretechnische Begriffsanalyse einer linguistischen (bzw. semiotischen) oder philosophischen Herangehensweise. Sie ist aber bzgl. der operativen Konsequenzen viel detaillierter und genauer. Andererseits spielen hier moralische oder psychologische Aspekte fast keine Rolle, zumindest liefert das gängige softwaretechnische Instrumentarium wenig oder keine Hilfsmittel zur systematischen Behandlung dieser Aspekte.

Details einer Datenanalyse

Die softwaretechnische Bildung des Begriffs "Geschlecht" geht also davon aus, daß Personen ein Merkmal "Geschlecht" haben, das verschiedene Ausprägungen hat, die wiederum in Form von Daten repräsentiert werden. Eine gründliche Datenanalyse muß folgende Fragen beantworten: Der letzte Punkt, die genaue Analyse der (geplanten) operativen Nutzungen ist sehr wichtig, hier liegt wohl der größte Unterschied zwischen einer softwaretechnischen Begriffsanalyse und einer linguistischen oder philosophischen. Die Unterstellung, daß Geschlechtsbegriffe operativ genutzt werden, ist aber auch bei anderen Herangehensweisen plausibel. Andernfalls wäre der mentale und operative Aufwand zur ihrer Definition und Erfassung nicht gerechtfertigt. Dies entspricht einer linguistischen Sichtweise, wonach Begriffe und deren tatsächlicher Gebrauch aufgrund von vorhandenen Kommunikationsnotwendigkeiten entstehen und (wenn man von politischer Propaganda und Begriffskriegen absieht) nicht frei erfunden und dann mit Zwang oder durch Propaganda eingeführt werden.

Welche Merkmale von Personen sind Geschlechtsmerkmale?

Die Augenfarbe, das Gewicht oder den Geburtsort einer Person sieht man i.a. nicht als "Geschlecht" der Person an, noch nicht einmal als Geschlechtsmerkmal, das in eine komplexere Definition von Geschlecht eingeht. In der allgemeinen Sprachpraxis assoziiert man mit "Geschlecht" diverse Merkmale oder Merkmalskombinationen, die alle irgendwie mit Fortpflanzung, Sexualität oder Paarungsverhalten zu tun haben. Diese Bedingung ist bei den obigen Beispielen nicht erfüllt.

Analog kann man sich fragen, ob die Anrede einer Person oder die neuerdings von einigen Personen gewünschten Pronomen Geschlechtsmerkmale sind. Auch wenn diese vage mit deren Sexualität zu tun haben, wird man diese Merkmale i.a. nicht als Geschlechtsmerkmale ansehen, sondern bestenfalls als funktional abhängige Werte eines wirklichen Geschlechtsmerkmals. Technisch gesehen werden solche Merkmale erfaßt und bei Bedarf wieder 1:1 ausgegeben, mehr passiert nicht damit, sie haben keine nichttrivialen Nutzungen.

Die häufigsten und wichtigsten nichttrivialen Nutzungen von Geschlechtsmerkmalen sind Klassifizierungen von Personen und die unterschiedliche Behandlung von Personen in den so definierten Kategorien. Anders ausgedrückt werden hier Taxonomien gebildet. Der zugehörige Geschlechtsbegriff ist definiert durch eine flache oder in Ausnahmefällen hierarchisch strukturierte Menge von Bezeichnern für Kategorien (Ausprägungen des Geschlechts bzw. kurz "Geschlechter"). Die Kategorien sind disjunkte Zerlegungen der Gesamtpopulation oder der jeweiligen übergeordneten Kategorie.

Inkompatibilität der Geschlechtsbegriffe in verschiedenen Anwendungsfällen

Ein großer Teil des Streits um dem Begriff Geschlecht rührt daher, daß in unterschiedlichen Anwendungsfällen aus sachlichen Gründen unterschiedliche Kategorisierungen von Personen benötigt werden und dadurch untereinander inkompatible Geschlechtsbegriffe entstehen. Beispiele hierzu:
  1. Wenn (Evolutions-) Biologen Vererbung oder sexuelle Selektion studieren und hierzu z.B. Daten über Individuen einer Population analysieren, dann benötigt man i.a. 3 Kategorien: weiblich (Eiproduzent), männlich (Samenproduzent), unfruchtbar bzw. allgemeiner nicht fortpflanzungsfähig.
    Anmerkung zur häufig betonten Binarität des reproduktiven Geschlechts:

    Eine erfolgreiche menschliche Reproduktion ist nur möglich, wenn eine Eizelle und eine Samenzelle "vereinigt" werden (das Vereinigen ist im Detail betrachtet ein sehr komplizierter Prozeß, außerdem müssen vor und nach der Vereinigung viele weitere Bedingungen für eine erfolgreiche Reproduktion erfüllt sein). Bezugsrahmen des Begriffs reproduktives Geschlecht ist also ein Modell (im Sinne von Stachowiak) des Reproduktionsprozesses, in dem Abstraktionen von Menschen die Rolle des Ei- oder des Samenproduzenten spielen. Menschen werden in diesem Modell auf die biologischen Funktionen reduziert, die bei der Fortpflanzung auftreten. In diesem Bezugsrahmen ist der Geschlechtsbegriff inhärent binär.

    Ein anderer Bezugsrahmen liegt vor, wenn man reproduktionsbezogene Daten über eine komplette Population erfassen will. Darin können Personen vorkommen und müssen erfaßt werden, die infolge von Chromosomenanomalien, Unfällen oder Krankheiten prinzipiell keinen Nachwuchs haben können. Als reproduktionsfähig gelten Personen in der Population, die die körperlichen Voraussetzungen haben, die Rolle des Ei- oder Samenproduzenten ausüben zu können, oder die diese Voraussetzungen hatten (im Alter) oder die sie voraussichtlich haben werden (vor der Pubertät). Auf diese Personen wird die jeweilige Rollenbezeichnung aus dem Bezugsrahmen "abstraktes Modell" übertragen. Die Rollenbezeichnungen bleiben zwar gleich, wegen des anderen Bezgsrahmens haben sie aber eine Bedeutung: sie sind Bezeichner von Kategorien in einer Taxonomie, keine Rollenbezeichnungen in einem abstrakten Modell der menschlichen Reproduktion.

    Bei unfruchtbaren Personen ist eine solche Zuordnung nicht möglich. Beim Bezugsrahmen "Population" ist daher eine weitere, dritte Kategorie "unfruchtbar" - die man ggf. weiter nach den Ursachen untergliedern kann - unverzichtbar. Eine binäre Kategorisierung ist hier nicht zulässig, man braucht mindesxtens drei Kategorien.

    Personen, die in die Kategorie "unfruchtbar" fallen, spielen für die Themen, die bei der Vererbung bzw. Evolution interessieren, i.a. keine Rolle. Anders selektiert man hier die betrachtete Population mental oder technisch vor. Die 3. Kategorie wird daher in solchen Kontexten regelmäßig nicht als "ein Geschlecht" angesehen. Gegen die Bezeichnung dieser Kategorie als "ein Geschlecht" spricht ferner, daß der Begriff Geschlecht normalerweise unterstellt, daß eine Person des Geschlechts X Nachkommen des Geschlechts X (und anderer Geschlechter) erzeugen kann. Das ist bei unfruchtbaren Personen nicht der Fall.
  2. Sexualmediziner, die Chromosomenanomalien und dadurch verursachte Erbkrankheiten behandeln, unterscheiden ca. 10 verschiedene Chromosomenkonfigurationen (sog. Karyotypen). Die Karyotypen 46,XX bzw. 46,XY werden oft als "Frau" bzw. "Mann" bezeichnet. Diese Kategorien sind aber nicht identisch mit den Kategorien "Frau" bzw. "Mann" beim Fall (a).

  3. Eine Partnervermittlungsagentur, ein Verhaltensbiologe, ein Geschlechtersoziologe und jeder, der die Verpartnerungspräferenzen von Menschen erfassen will, wird bzgl. der Sexualität wenigstens 4 Kategorien unterscheiden: heterosexueller Mann, heterosexuelle Frau, (männlicher) Homosexueller und Lesbe. Diese 4 Kategorien werden auf Basis von zwei Geschlechtsmerkmalen gebildet: dem eigenen Phänotyp der Person (männlich bzw. weiblich) und dem Phänotyp anderer Personen, der als sexuell attraktiv angesehen wird und der zu meßbaren biologischen Reaktionen, u.a. Hormonausstößen, führen kann (Homophilie, Gynophilie).
    Noch komplizierter wird es, wenn wie oben diskutiert Frau und Transfrau oder nichtbinäre Personen als eigene Kategorien gelten, weil sie eigene Verpartnerungsverhalten haben. Als eigene Kategorien hinzu kommen ggf. Detransitionierer, die zum ursprünglichen Geschlecht zurückgekehrt sind, aber infolge der Behandlungen nicht mehr fortpflanzungsfähig sind und deshalb ggf. nicht mehr als Partner akzeptiert werden.
    Entsprechende Taxonomien werden oft nicht mit "Geschlecht" bezeichnet, sondern mit "Gender" oder "sexuelle Orientierung". Die Wahl dieser Bezeichnung ändert aber nichts daran, daß es sich um einem Geschlechtsbegriff handelt.
Diese 3 Beispiele (man findet leicht weitere) für Geschlechtsbegriffe bzw. sexualitätsbezogene Taxonomien reichen bereits für zwei wesentliche Erkenntnisse aus:
  1. Die Taxonomien sind unabhängig voneinander, oder anders gesagt inkompatibel. Es ist hier unerheblich, daß einige Kategorien in den Taxonomien statistisch stark korrelieren, z.B. "(reproduktive) Frau" - "46,XX" - "heterosexuelle Frau". Für die unterschiedlichen Informationsbedürfnisse in den verschiedenen Anwendungsfällen ist jeweils nur die passende Taxonomie akzeptabel.
  2. Selbst wenn zufälligerweise in zwei verschiedenen Taxonomien Kategorien mit dem gleichen Bezeichner vorkommen, sind die gleich benannten Kategorien nicht dasselbe, weder definitorisch noch hinsichtlich der gemeinten Personenkollektion. Die Verwendung einer Kategorie außerhalb ihrer Taxonomie, also außerhalb ihres zugehörigen Anwendungsfalls, ist ein Kategorienfehler - dies gilt auch dann, wenn die beiden Kategorien den gleichen Bezeichner haben (der Fehler fällt leider nicht sofort auf).

"Mann" und "Frau" als Kategorienfehler

Die zweite vorstehende Erkenntnis bedeutet: es gibt - ein gewisses Maß an Präzision vorausgesetzt - keine universellen, in beliebigen Taxonomien anwendbaren Geschlechtskategorien. Dies gilt insb. für die als "Mann/männlich" und "Frau/weiblich" bezeichnete Kategorien. Die Verwendung dieser Bezeichnungen im Sinne universeller Kategorien ist ein Kategorienfehler.

Dieser Kategorienfehler tritt leider sehr häufig auf. [Steinhoff 2021] beschreibt mehrere Fälle, in denen "Mann/männlich" und "Frau/weiblich" als Bezeichner für universelle Geschlechtskategorien (also für "Geschlechter") benutzt werden und der Eindruck entsteht, daß die Autoren "nicht wissen, wovon sie reden". In praktisch allen diesen Beispielen sind die Probleme dadurch verursacht, daß versucht wird, mit den universellen Geschlechtskategorien "Mann" und "Frau" zu argumentieren. Bei den anderen Geschlechtskategorien in den o.g. Taxonomien, z.B. Lesbe, tritt dieser Fehler nicht auf, weil er sofort erkannt wird.

Teilweise werden universelle Geschlechtskategorien stillschweigend vorausgesetzt, also implizit gebildet. Teilweise wird vage angedeutet, wie man eine universellen Taxonomie bilden könnte: es ist von Geschlecht als einem "mehrdimensionalen Konstrukt" die Rede oder es wird die "Kombination mehrerer, ganz unterschiedlicher Eigenschaften" vorgeschlagen. Wenn man für eine Kollektion von Personen die Informationen für alle 3 obigen Anwendungsfälle gleichzeitig verwalten wollte, müßten die Daten in der Tat 3 Geschlechtsattribute mit der jeweiligen Kategorisierung enthalten, weil die Werte unabhängig voneinander sind. Dies sieht aus wie ein mehrdimensionales Konstrukt, das unterschiedliche Eigenschaften kombiniert. Leider ist die Kombination dieser Eigenschaften aus verschiedenen Taxonomien für nichts brauchbar, insb. nicht für die vorhandenen Anwendungsfälle: diese können nur die ihnen zugehörigen Daten sinnvoll interpretieren. Die Kombination der Werte entspricht mathematisch gesehen der Bildung des Kreuzprodukts der Wertebereiche, für die resultierende neue Taxonomie gibt es keinen zugehörigen Anwendungsfall.

Warum dieser - eigentlich offensichtliche - Kategorienfehler so häufig auftritt, ist ein separates Thema. Es kann hier nicht vertieft werden, zumal über vieles nur spekuliert werden kann. Man wird jedenfalls die begrifflichen Probleme nicht loswerden, solange man an der Vorstellung von universellen Geschlechtskategorien festhält.

Streit um die Bezeichner für Geschlechtsbegriffe bzw. sexualitätsbezogene Taxonomien

Selbst dann, wenn man sauber eigenständige Taxonomien bildet, kann das Problem auftreten, daß die Taxonomien als solche alle mit "Geschlecht" bezeichnet werden. Ein Streit hierüber kann i.d.R. leicht geschlichtet werden, indem man auf Bezeichnungen wie "biologisches / reproduktives / chromosomales / hormonelles Geschlecht" und andere ausweicht.

Dieses Problem sollte nicht verwechselt werden mit dem viel gravierenderen Fehler, Geschlechtskategorien mit zufällig gleichem Namen als identisch anzusehen.

Vergleich mit anderen methodischen Ansätzen

Die oben im Vordergrund stehende Benutzung von Geschlechtskategorien als Taxonomien zur Steuerung unterschiedlicher Behandlungen ist zwar technisch motiviert, entspricht aber regelmäßig den Unterschieden im realen, nichtautomatisierten Verhalten bzw. der Behandlung von Personen. Diese Verhaltensunterschiede sind typischerweise die Antwort auf die Frage "Was bedeutet eigentlich Geschlecht X genau?" bei einer unscharfen Begriffsbildung.

Die oben dargestellte Inkompatibilität verschiedener Geschlechtsbegriffe und die Erkenntnis, daß sinnvolle universelle Kategorien nicht existieren bzw. Kategorienfehler sind, kann man ebenfalls i.w. auf andere methodische Ansätze übertragen, soweit diese empirisch orientiert sind und ein hohes Maß an Abbildungsgenauigkeit anstreben. Dies ist ist aber keineswegs in allen Wissenschaften der Fall.

Vergleich mit der Rechtswissenschaft

Ursachen für unscharfe Begriffe in Gesetzen

Gesetze und andere Regelungen sind grundsätzlich nicht deskriptiv (also als Beschreibungen der aktuellen oder früheren empirischen Tatsachen gedacht), sondern präskriptiv bzw. normativ, es soll ja das künftige Verhalten der Bürger reguliert werden. Wichtige Gesetze, angefangen beim Grundgesetz, sollen eine lange Gültigkeitsdauer haben. Währenddessen können sich die Verhältnisse ändern. Schon alleine deswegen arbeiten Gesetze regelmäßig mit unscharfen Begriffen, die eine sinngemäße Anpassung an geänderte Verhältnisse erlauben. Sie stammen aus dem allgemeinen Sprachgebrauch und bauen auf einem intuitiven Verständnis auf, zumal sie einem mündigen Bürger verständlich sein sollen.

Ein anderer wichtiger Grund für Unschärfen liegt darin, daß gesetzliche Regelungen Machtverhältnisse repräsentieren und sich der Gesetzgeber, insb. die regierenden Parteien, über den Regelungsgehalt nicht einig sind. Ungelöste Machtkonflikte werden dann ggf. dadurch gelöst, daß man mittels unscharfer Formulierungen den Regelungsgehalt nicht klar definiert, die wirkliche Festlegung damit auf die Rechtsprechung verlagert, womit man außerdem Zeit gewinnt.

Wegen der vorstehenden Gründe kann die Benutzung universeller Geschlechtskategorien, die im Grundgesetz und vielen anderen Gesetzen vorliegt, gerechtfertigt erscheinen. Durch Sonderregelungen oder Richterrecht würden die universellen Geschlechtskategorien Mann und Frau faktisch in Einzelfällen ergänzt werden durch weitere Sonderfälle (die aber keinen Namen haben).

Interpretation von Gesetzestexten

In Fällen, wo eine genaue Interpretation der Gesetzestexte erforderlich ist, wird regelmäßig auf andere Gesetze oder Gerichtsentscheidungen ("Richterrecht") zurückgegriffen. Was dabei herauskommt, ist Verhandlungssache und kann von politischen Machtverhältnissen abhängen. Klar dürfte jedenfalls sein, daß informatische Begriffanalysemethoden oder linguistische Textanalysemethoden nicht geeignet sind, die wahrscheinliche Bedeutung von Gesetzestexten zu erschließen.

Diese Beobachtungen gelten besonders ausgeprägt beim Themenkomplex Gleichberechtigung von Mann und Frau. Der Begriff Gleichberechtigung (von Mann und Frau) gilt als Musterbeispiel dafür, wie ein Begriff vollkommen pervertiert, also in sein Gegenteil verwandelt werden kann. Bei einem intuitiven, umgangssprachlichen Textverständnis bedeutet er, daß der Gesetzgeber in seiner Gesetzgebung Männern und Frauen keine Sonderrechte geben darf, sondern gleiche Rechte und Pflichten geben muß. In der heutigen, feministisch geprägten Rechtsauslegung bedeutet er das genaue Gegenteil, nämlich daß Frauen rechtliche Privilegien eingeräumt werden können oder sogar infolge eines angeblichen allgemeinen "Gleichstellungsgebots" (das vollkommen willkürlich nur auf ausgewählte soziale Differenzen bezogen wird) müssen und daß die zahllosen existierenden Gesetze und Regelungen, die jetzt schon Frauen rechtliche Privilegien einräumen, grundgesetzkonform sind.

Auswirkungen des kommenden Selbstbestimmungsgesetzes

Die jetzt schon vorhandene Beschädigung des Begriffs Gleichberechtigung (im Sinne der Pervertierung der umgangssprachlichen Bedeutung) in Art. 3 GG wird im kommenden Selbstbestimmungsgesetz voraussichtlich ausgedehnt auf die Begriffe Mann und Frau.

Viele der heutigen Sonderrechte von Frauen (kein Wehrdienst, geringere Anforderungen in Berufen, die viel Körperkraft erfordern, Mutterschutz usw.) werden durch biologische Unterschiede begründet, bei denen Frauen "Nachteile" haben, besonderen Belastungen in einer Schwangerschaft ausgesetzt sind o.ä. Dies entspricht dem Grundsatz, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Die so begründeten Sonderrechte wird man Transmännern kaum aberkennen können, bei Transfrauen entfällt umgekehrt die biologische Begründung der Ungleichbehandlung.

Durch die frei Wahl des juristischen Geschlechts im kommenden Selbstbestimmungsgesetz wird die bisher grundsätzlich biologische Kategorisierung von Personen abgeschafft und durch eine Kategorisierung anhand einer Selbstzuschreibung, die auf keinerlei objektiv meßbaren Kriterien beruht, ersetzt. Durch den fehlenden biologischen Bezug geht aber auch die Ungleichheit und damit die Begründung der ungleichen Behandlung verloren. Um keine massive Verletzung des (Un-) Gleichheitsprinzips zu verursachen, müssen das Grundgesetz und alle Gesetze, die Frauen Privilegien einräumen, dahingehend geändert werden, wieder einen Bezug zu den biologischen Unterschieden herzustellen. Damit wird aber implizit eine eigene Taxonomie geschaffen, die bis auf die Bezeichnungen der Kategorien identisch identisch mit dem gerade abgeschafften Geschlechtsbegriff ist.

Festhalten kann man jedenfalls, daß der juristische Geschlechtsbegriff zu einer weiteren Taxonomie führt, die nicht mit den drei oben genannten Anwendungsfällen und weiteren kompatibel ist.

Das Fatale an der juristischen Begriffszerstörung ist, daß die Rechtswissenschaft wegen ihrer Verbindungen zu politischen Machtstrukturen weitaus mehr Einfluß auf die öffentliche Meinungsbildung als andere Wissenschaften hat, zugleich aber definitionsgemäß eine Wissenschaft ist, die Begriffszerstörung also unter die Wissenschaftsfreiheit fällt und damit als Präzendenzfall dient, der Begriffszerstörungen generell sanktioniert.

Probleme mit dem 3. Personenstand "divers"

Das Grundgesetz bzw. die ganze Rechtsordnung unterscheidet vom Grundsatz her Männer und Frauen. Beide Begriffe werden nicht explizit definiert, historisch gesehen ist aber offensichtlich eine biologische Definition unterstellt (reproduktives Geschlecht). Für Personen, die anhand des Phänotyps nicht eindeutig klassifiziert werden können, wurde zusätzlich die Kategorie "divers" geschaffen.

Das Grundgesetz und diverse Bundes- und Landesgesetze verschaffen Frauen eine Vielzahl von rechtlichen Privilegien (keine Pflicht zum Wehr- oder Ersatzdienst, besondere Unterstützung von Müttern (nicht von Vätern), der große Arbeitsmarkt der Gleichstellungsbeauftragten ist fast komplett für Frauen reserviert u.v.a.m.). Bei diversen Personen ist (mir) zunächst unklar, welche der vielen Sonderrechte von Frauen beansprucht werden können. Transmänner, die schwanger werden, können mit Sicherheit fast alle Sonderrechte von Müttern beanspruchen. Unklar ist. ob sie auch Frauenbeauftragte werden können. Sofern diverse Personen nur einen Teil der Sonderrechte von Frauen beanspruchen können, müßten operational gesehen die Kategorien "männlich divers" und "weiblich divers" unterschieden werden (unter der Annahme, daß "männlich divers" nicht äquivalent zu "männlich" ist, weil alle diversen Personen z.B. Sonderrechte auf spezielle medizinische Fürsorge haben).

Begriffliche Inkonsistenzen durch das kommende Selbstbestimmungsgesetz

Das von der Ampelkoalition angekündigte Selbstbestimmungsgesetz wird vermutlich ein Kompromiß zwischen den beiden inhaltlich ähnlichen Gesetzesentwürfen von FDP und Grünen sein, die am 19.05.2021 vom Deutschen Bundestag abgelehnt wurden. Es verschafft Transsexuellen eigene Privilegien, und zwar in Form des Offenbarungsverbots, bei dem z.Z. nur spekuliert werden kann, für wen es in welchen Situationen gilt. Zumindest gelten dürfte es für Beamte in Standesämtern oder in Prüfungsämtern oder Schulen, die Zeugnisse und andere Dokumente nachträglich umgeschrieben haben, eventuell auch für Unternehmen und Privatpersonen. Wegen dieser Sonderrechte bilden Transsexuelle eine eigene Kategorie und haben daher funktional betrachtet ein anderes juristisches Geschlecht als Nicht-Transsexuelle. Die Speicherung eines entsprechenden Datenwerts in einem Attribut "juristisches Geschlecht", das allgemein lesbar wäre, würde aber gerade das Offenbarungsverbot verletzen. Lösbar erscheint dieser Widerspruch nur dadurch, daß die vom Offenbarungsverbot betroffenen Personen und Institutionen eine Art gespaltene Persönlichkeit entwickeln: in Kontexten, wo Informationen über die Transsexualität bekannt sein müssen - z.B. bei einem abzulehnenden erneuten Geschlechtswechsel innerhalb der Ausschlußfrist - müssen sie von der Transsexualität wissen, in anderen Kontexten müssen sie sie leugnen, und zwar selbst im Fall einer offenen oder schlecht kaschierten Transsexualität.
Genaugenommen kann schon das Wissen, wann welcher Kontext vorliegt, und die Ahndung von Verstößen gegen das Offenbarungsverbot eine Verletzung des Offenbarungsverbots darstellen. Wenn z.B. eine Person A behauptet, Person B sei transsexuell, dann kann A wegen groben Unfugs o.ä. belangt werden, wenn Person B nicht transsexuell ist. Ist Person B hingegen tatsächlich transsexuell, dann würde die gleiche Handlung viel strenger verfolgt und bestraft werden. Sofern diese Strafverfolgung nämlich nicht völlig isoliert von der Öffentlichkeit stattfindet, offenbart sie erst recht die Transsexualität.

Quellen