Kategorienfehler
in Geschlechtsbegriffen und deren Folgen für die
Wissenschaftsfreiheit
Udo Kelter
Stand: 28.06.2022
Einführung
Der Fall Kathleen Stock findet seit dem Sommer 2021 eine
breite Resonanz in den Medien und hat zu mehreren Reaktionen
aus dem Netzwerk Wissenschaftsfreiheit geführt. Er wird als
wichtiges Beispiel für die Bedrohung der
Wissenschaftsfreiheit verstanden. Ich gehe hier der Frage
nach, in welcher Form hier die Wissenschaftsfreiheit bedroht
wird, ob es sich um mehr als ein Problem der
Wissenschaftsfreiheit handelt und was die Ursachen sind.
Thesen zur Reichweite der Angriffe
auf die Wissenschaftsfreiheit und zu den
Frontverläufen
-
Der Fall Stock und weitere ähnliche Fälle sind Teil eines
viel umfassenderen Angriffs auf die Errungenschaften der
Aufklärung und die Grundlagen einer liberalen Demokratie,
die einen mündigen Bürger unterstellen, der sich
vernunftgesteuert eine eigene Meinung bilden kann.
Auch Journalisten, Künstler oder Politiker werden in
gleicher Weise von vermutlich den gleichen Aktivistenkreisen
angegriffen (s. u.a. den Harper's Letter [Ackerman 2020]" und die Debatte um
die cancel culture).
Man kann sogar noch weitergehen und hier von einem Angriff
auf Grundlagen der menschlichen Existenz vieler Menschen
sprechen, nämlich dem Selbstkonzept, sich grundsätzlich als
ein biologisches Wesen zu betrachten, das durch die Rolle
bei der biologischen Reproduktion genauso wesentlich
definiert ist wie durch Körpergröße, Talente oder andere
unabänderliche Merkmale (die Debatte hierzu schien
eigentlich mit Pinkers Buch "The Blank Slate: The Modern
Denial of Human Nature" entschieden zu sein).
Insofern handelt es sich hier nicht nur um eine Gefährdung
der Wissenschaft und der Wissenschaftsfreiheit, sondern um
eine Gefährdung der ganzen liberalen, aufgeklärten
Gesellschaft. Konsequenz hiervon ist, daß es nichts
bringt, die Lösung der Probleme nur in der Wissenschaft zu
suchen.
-
Die Angriffe erfolgen auch aus der Wissenschaft
heraus. Die offensichtlich illegalen Mobbingaktionen
Außenstehender werden konzeptuell unterstützt - man kann es
auch als geistige Brandstiftung ansehen - von Teilen der
Wissenschaft (genauer gesagt als WissenschaftlerInnen
offiziell akkreditierten Personen auf Stellen, die auf
politischen Druck hin entstanden sind, um einer Ideologie
eine wissenschaftliche Begründung zu verschaffen).
Die Personen können sich wiederum auf ihre
Wissenschaftsfreiheit berufen.
Ein Teil des Zermürbungskriegs gegen Stock und ähnliche
Betroffene kann deshalb als legale Wissenschaftsdebatte bzw.
Streit zwischen Denkschulen verortet werden und verleiht
den illegalen Aktionen das Image, zumindest das Richtige
erreichen zu wollen, nur mit falschen Mitteln.
Für Außenstehende bzw. die politische Öffentlichkeit ist die
Grenze zwischen einerseits legaler Kritik und andererseits
Mobbing bis hin zur Anstiftung von Straftaten in solchen
Fällen schwer zu unterscheiden.
-
Dies kein gewöhnlicher Angriff auf die
Wissenschaftsfreiheit, sondern ein viel grundsätzlicherer.
"Gewöhnliche" Formen von Wissenschaftsfeindlichkeit richten
sich primär die vorhandenen oder befürchteten Ergebnisse
und Auswirkungen der Forschungen (Atomenergie,
Waffentechnik, Gentechnik, Künstliche Intelligenz u.a.) und
betreffen nur eine Wissenschaft. Die hier vorliegende
Wissenschaftsfeindlichkeit greift hingegen in erster Linie
die ganz elementare Begriffsbildung auf Basis einer
objektiven Realitätswahrnehmung an. Allgemeiner gesagt also
die Methoden, wie Begriffe gebildet werden und wie
überhaupt wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden.
Eine objektive Realitätswahrnehmung und die darauf
basierende Begriffsbildung ist aber so elementar, daß sie in
allen möglichen Wissenschaften (und natürlich auch außerhalb
der Wissenschaften) zwingend notwendig ist.
-
Die Forderungen der Transaktivisten laufen teilweise auf
eine völlig Ausschaltung jeglicher Rationalität und Vernunft
hinaus und verlangen von der Öffentlichkeit, Aussagen
gleichzeitig als wahr anzuerkennen, die offensichtlich in
sich widersprüchlich sind (Beispiele s.u.). Dieser
dystopischer Zustand ist offensichtlich ein massiver
Eingriff in das elementare Freiheitsrecht jedes mündigen
Bürgers, logisch zu denken.
Vorbemerkungen zur Präzision von Begriffen
Da es sich hier um einen Begriffskrieg handelt, kommt man
nicht umhin, zu versuchen, die Begriffe zu klären, wobei man
sich über seine Methoden klar sein sollte, wie man
konsistente Begriffe bildet.
Ich verwende hier einen informatischen Zugang zur Materie,
genauer gesagt einen softwaretechnischen Zugang. In der
Softwaretechnik geht es u.a. um die Analyse der
Anforderungen eines Kunden an ein zu entwickelndes
Informationssystem, das betriebliche Vorgänge vollständig
automatisiert oder Sachbearbeiter dabei unterstützt. Hierzu
müssen (etwas vereinfacht betrachtet) alle voraussichtlich
auftretenden Details schon
vor der Realisierung der
Software exakt spezifiziert werden. Dementsprechend zielen
softwaretechnische Begriffs- bzw. Datenanalysen auf eine
frühzeitige, genaue und detaillierte Spezifikation der
Daten.
Diese Haltung unterscheidet sich erheblich von der
Begriffsbildung -und Verwendung in Gesetzen und politischen
Debatten (ggf. auch in der Philosophie). Dort arbeitet man
aus plausiblen Gründen eher mit vagen, informell definierten
und weit anwendbaren Begriffen und verschiebt
Detailbetrachtungen auf einen späteren Zeitpunkt. Hierauf
gehe ich nach der informatischen Begriffsanalyse näher ein.
Transsexualität als Nötigung zur
Akzeptanz innerer Widersprüche
Grundlegende biologische Geschlechtsbegriffe
Bevor man Transsexualität genauer definieren kann, muß man
zunächst biologische Geschlechtsbegriffe einführen. Bei
biologischen Geschlechtsbegriffen basiert die Definition von
Geschlechtskategorien auf biologischen, objektiv meßbaren
Merkmalen von Menschen.
Menschliche Fortpflanzung ist nur möglich, indem eine
Eizelle mit einer Samenzelle (beide sog. haploide
Keimzellen, die nur einen einfachen Chromosomensatz haben)
vereinigt wird. Menschen können höchstens einen der beiden
Keimzelltypen herstellen. Funktionsfähige Keimzellen
entstehen nämlich in komplexen, hormonell gesteuerten
biochemischen Prozessen, für die neben den ins Auge
fallenden Eierstöcken bzw. Hoden umfängliche biologische
Strukturen benötigt werden. Dementsprechend basiert die
grundlegendste biologische Geschlechtsklassifikation auf der
Fähigkeit, Eizellen bzw. Samenzellen zu produzieren.
Die erwähnten biologischen Strukturen für die Produktion der
Keimzellen und für die natürliche Befruchtung sind
notwendige (aber nicht immer hinreichende) Voraussetzung für
die Fortpflanzung, sie werden als primäre
Geschlechtsmerkmale bezeichnet. Diese sind teilweise
äußerlich erkennbar (namentlich B. Vulva, Vagina, Hoden und
Penis). Aus deren Vorhandensein kann mit sehr hoher
Zuverlässigkeit auf das Vorhandensein der weiteren
Strukturen geschlossen werden, und zwar schon direkt nach
der Geburt und auch bei einer Leiche. In der Praxis werden
Menschen fast nur anhand der sichtbaren primären
Geschlechtsmerkmale als männlich oder weiblich
klassifiziert, nicht danach, ob sie tatsächlich Ei- bzw.
Samenzellen produzieren können (was ohnehin nicht vor der
Pubertät und ggf. nicht mehr im Alter möglich ist).
Zusätzlich für die Klassifizierung ausgenutzt werden oft
sekundäre und tertiäre Geschlechtsmerkmale (z.B. Bartwuchs
oder weibliche Brust), die zwar u.a. für die sexuelle
Attraktion wichtig sind, die aber für die
Fortpflanzungsfähigkeit nicht entscheidend sind. Das
Gesamtbild dieser sekundären und tertiären
Geschlechtsmerkmale wird auch als männlicher bzw. weiblicher
Phänotyp bezeichnet.
Obwohl sich die hier erwähnten biologischen
Geschlechtsbegriffe (Keimzellen- bzw. Phänotyp-basiert)
formal unterscheiden, weil sie auf verschiedene körperliche
Merkmale zurückgreifen, unterscheiden sie sich praktisch
nicht im Ergebnis der Klassifikation von Menschen in die
drei Kategorien männlich, weiblich und "divers" (= nicht
eindeutig als männlich oder weiblich klassifizierbar).
Sie können daher als äquivalent angesehen werden.
Transidentität
Unter
Transidentität verstehe ich i.f., daß die
sexuelle Identität einer Person (das Geschlecht, dem sie
sich selber zuordnet, als das sie sich empfindet) nicht
identisch mit ihrem aktuellen Phänotyp (männlich bzw.
weiblich) ist. Diese Nichtübereinstimmung verursacht eine
gravierende Depression ("Geschlechtsdysphorie"), die wegen
der Suizidgefahr als reale, lebensgefährliche Bedrohung
angesehen wird.
Innerer Widerspruch Nr. 1:
gleichzeitige Ablehnung und Benutzung des biologischen
Geschlechtsbegriffs
Viele aktivistische Transidente (sowie Transaktivisten, die
selber nicht transident sind) bestreiten jegliche Relevanz
des biologischen Geschlechtsbegriffs und versuchen, die
Benutzung des biologischen Geschlechtsbegriffs - z.B. die
Äußerung, eine Transfrau sei biologisch ein Mann - zu
tabuisieren oder gesetzlich zu einer Straftat zu machen.
Vielfach wird behauptet, biologische Geschlechtsbegriffe
seien sozial konstruiert, also willkürlich und daher
irrelevant. Die Benutzung biologischer Geschlechtsbegriffe
sei nur als Aggression gegen Transidente verstehbar, also
"transphob".
Hier liegt ein ganz gravierender und folgenreicher innerer
Widerspruch vor: die Definition der Transidentität basiert
selber wesentlich auf dem biologischen Geschlechtsbegriff.
Wenn in der Definition von Transidentität von einem
vorhandenen und einem gewünschten Geschlecht die Rede ist,
wird "Geschlecht" als männlicher bzw. weiblicher Phänotyp
verstanden. Auch die gewünschten "geschlechtsangleichenden"
Therapien zielen darauf, die physischen, vor allem die
äußerlich sichtbaren Geschlechtsmerkmale gemäß dem
gewünschten Phänotyp in etwa herzustellen bzw. vorhandene
unerwünschte Geschlechtsorgane zu amputieren.
Innerer Widerspruch Nr. 2: Änderung einer "Zuweisung"
durch physische Änderungen
Den inneren Widerspruch Nr. 1, der aus der Tabuisierung
biologischer Geschlechtsbegriffe folgt, haben auch
Transaktivisten erkannt. Daher wird inzwischen in der
Definition von Transidentität der Bezug auf den Phänotyp
strikt vermieden und stattdessen Bezug genommen auf ein "bei
der Geburt zugewiesenes Geschlecht", das nicht mit dem
gewünschten bzw. "tatsächlichen" Geschlecht übereinstimmt.
Der Begriff "zugewiesen" unterstellt, daß es sich um eine
willkürliche Zuweisung handelt und nicht um eine auf
objektiven Sachverhalten basierende Klassifikation. Er
appelliert unterschwellig an die klassische feministische
Hypothese, daß die Gesellschaft den Menschen
Geschlechterrollen zuweist, die nicht biologisch zu
rechtfertigen sind. Die Definition läßt offen, wie
"Geschlecht" beim "gewünschten/tatsächlichen Geschlecht" zu
verstehen ist.
Der Begriff "zugewiesen" unterstellt ferner, daß das
Ergebnis dieser Zuweisung irgendwie zeitlebens an der Person
anhaftet, z.B. mittels einer umfassenden Bürokratie wie den
deutschen Standesämtern. Tatsächlich dürfte in vielen Fällen
aber unbekannt sein, was genau bei der Geburt oder
unmittelbar danach passiert ist, ob ein Standesamts- oder
Krankenhausformular zur Hand war, auf dem man etwas
ankreuzen konnte, wer genau befugt war, die Zuweisung
vorzunehmen usw. Wenn man die Definition ernst nimmt, dann
haben Menschen in Ländern, in denen es keine
Standesamtsbürokratien und Personalausweise gibt, kein
Geschlecht, sie könnten es auch nicht selber autonom bei
sich nachträglich bestimmen und nicht transident sein.
Wenn man die offensichtliche Absurdität des auf Zuweisung
basierenden Geschlechtsbegriffs ignoriert und die Zuweisung
als entscheidendes definitorisches Kriterium akzeptiert,
führt das zu einem neuen inneren Widerspruch: Eine Zuweisung
kann prinzipiell nur durch eine erneute Zuweisung
aufgehoben, z.B. durch einen formellen Akt im
Einwohnermeldeamt, im Krankenhaus oder bei einem Notar, in
dem ein dazu Befugter der transidenten Person das gewünschte
Geschlecht in einer Zeremonie zuweist und dies
fälschungssicher dokumentiert und archiviert. Tatsächlich
wird von transidenten Personen aber keine neue Zuweisung
verlangt, sondern eine Veränderung des Phänotyps. Diese
physische Änderung ist keine Zuweisung, sie kann daher eine
frühere Zuweisung nicht aufheben oder korrigieren.
Transsexualität
Unter
Transsexualität verstehe ich i.f., daß eine
transidente Person eine körperliche Transition ganz oder
teilweise vorgenommen hat, üblicherweise durch
Hormonbehandlungen und/oder chirurgische Eingriffe. Eine
Transition geht nur langsam vonstatten und kann mehrere
Jahre beanspruchen, d.h. über lange Zeiträume dominiert noch
der ursprüngliche Phänotyp.
Die Behandlungen (insb. mit Hormonen) müssen i.d.R.
lebenslänglich fortgesetzt werden, weil sonst der
biologische Phänotyp zurückkehrt. Insofern ist es nicht
trivial zu entscheiden, wann das Ende einer Transition
erreicht ist, man kann es jedenfalls nicht einfach mit einem
Ende aller Behandlungen gleichsetzen.
Ziel der Transition ist grundsätzlich, einen Phänotyp gemäß
dem gewünschten Geschlecht zu erhalten und von
uninformierten Dritten dementsprechend als Mann oder Frau
klassifiziert und behandelt zu werden. Da die Wirkung der
Behandlungen nicht schlagartig eintritt, sondern graduell,
werden während der Transformation langfristig körperliche
Zustände durchlaufen, die
nicht mehr eindeutig als
Phänotyp Mann oder Frau klassifiziert werden können. Bei
ungünstigen körperlichen Voraussetzungen, z.B. große,
breitschultrige biologische Männer oder kleine Frauen mit
ausgeprägt weiblichem Knochenbau, ist der gewünschte andere
Phänotyp praktisch gar nicht ausreichend approximierbar.
D.h. unbeteiligte Dritte erkennen während der Transition und
bei ungünstigen Voraussetzungen auch lange "danach" selbst
bei nur flüchtiger Bekanntschaft sehr schnell, daß es sich
um eine transsexuelle Person handelt. Grundsätzlich wird
eine Aufdeckung der Transsexualität umso wahrscheinlicher,
je enger man Kontakt zu einer transsexuellen Person hat.
Hinsichtlich des Erfolgs von Transitionen kann man in den
ideologischen Debatten um die Transsexualität zwei
"idealtypische Fälle" beobachten, die als der Normalfall
unterstellt werden, während der andere Fall als irrelevant
betrachtet und ignoriert wird:
- erfolgreiche Transition: Die Transperson
wird von ihrer sozialen Umwelt nur noch als der gewünschte
Phänotyp klassifiziert und entsprechend als biologischer
Mann bzw. Frau behandelt (insoweit Männer und Frauen
verschieden behandelt werden). Diese Annahme liegt offenbar
dem Offenbarungsverbot im neuen Selbstbestimmungsgesetz
zugrunde.
- nicht ausreichend erfolgreiche Transition: Die
Transperson wird auch bei oberflächlicher Kenntnis nicht als
männlicher bzw. weiblicher Phänotyp klassifiziert, erhebt
aber den Anspruch. Dies wird von der Umwelt i.a. als
Täuschungsversuch gewertet.
Wie häufig die beiden Fälle sind, ist schwer zu sagen. Die
Fälle (a) werden gerade nicht als solche erkannt, die
betroffenen setzen auch alles daran, nicht erkannt zu
werden. Deren Häufigkeit wird also leicht unterschätzt.
Wahrnehmbar sind fast nur die Fälle (b), was zur falschen
Verallgemeinerung führen kann, es gäbe nur die Fälle (b).
Innerer Widerspruch Nr. 3: Offene Transsexualität
Ähnlich zum vorstehenden Fall (b), aber von einer eigenen
Qualität ist die "offene Transsexualität" von Personen, die
sich freiwillig als transsexuell outen bzw. dies offen als
ihr Selbstverständnis herausstellen. Die aus den Medien
bekannten Beispiele (
[Diamond 2021],
[RTL
2021]) sind Prominente, oft selber Transaktivisten.
Ob eine Transition hier erfolgreich war oder ggf. gar nicht
versucht wurde, ist sekundär. Offen transsexuelle Personen
verlangen einerseits von ihrer Umwelt, als z.B. "Frau"
klassifiziert und behandelt zu werden. Gleichzeitig teilen
sie ihrer Umwelt mit, keine "biologische Frau" zu sein. Im
Endeffekt verlangen sie von ihrer Umwelt eine schizophrene
Wahrnehmung, zugleich Frau und nicht Frau zu sein. Wer nur
logisch denken kann, denkt besser nicht über diesen inneren
Widerspruch nach und schaltet sein Gehirn in dieser
Angelegenheit ab.
In eine ähnliche Richtung gehen weniger krasse Fälle, in
denen sich Transidente nicht ernsthaft bemühen, ihren
Phänotyp zu ändern, sondern z.B. nur die typische Kleidung
des anderen Geschlechts tragen oder sich irgendwelchen
Stereotypen gemäß verhalten. Ein offensichtlicher Grund
dafür ist, daß die medizinischen Eingriffe sehr belastend
sind und extrem gefährliche Kollateralschäden verursachen.
Das Risiko, in den Folgejahren zu sterben, steigt drastisch
an, s.
[Newgent
2020].
Begrifflich bleibt beim expliziten oder konkludenten Outing
als transsexuell vor allem rätselhaft, was "Frau" hier noch
bedeuten soll (analog bei "Mann"). Da offen Transsexuelle
selber zwischen (biologischen) Frauen und Transfrauen
unterschieden und sich als Transfrauen/-männer präsentieren,
sind Transfrau und Transmann offenbar eigenständige
Geschlechtskategorien. Dies ist insofern völlig plausibel,
als die Transidentität und ggf. Transition in der eigenen
Biographie eine zentrale Rolle einnehmen.
Ein entsprechender Geschlechtsbegriff müßte also die 4
Geschlechter Mann, Transmann, Frau und Transfrau
unterscheiden. Dies widerspricht aber wiederum dem binären
Geschlechtsbegriff, der der Definition von Transidentität
zugrunde liegt. Es widerspricht auch der endlos oft gehörten
Parole "eine Transfrau ist eine Frau". Offene
Transsexualität ist damit insgesamt ein besonders krasser
innerer Widerspruch.
Ein softwaretechnischer Ansatz zur Bildung
von Geschlechtsbegriffen
Wenn man sich den aufgeheizten Debatten um den
Geschlechtsbegriff vom eher emotionslosen Standpunkt eines
Informatikers, der im Kundenauftrag Informationssysteme
realisiert, nähert, fällt einem sofort ein gravierender
Kategorienfehler in den Debatten auf, nämlich die
Unterstellung, "Mann" und "Frau" seien universelle
Geschlechtskategorien. Aufgrund dieses Fehlers sind sehr
viele Aussagen sinnlos (oder man schließt wie
[Steinhoff 2021] darauf,
daß die Autoren nicht wissen, wovon sie reden).
Methodische Einordnung
Wie schon gesagt nehme ich hier Standpunkt eines
Softwaretechnikers ein, der im Kundenauftrag
Informationssysteme mit Datenmodellen modelliert. Hier
natürlich ein Informationssystem, das Informationen über
eine Kollektion von Personen verwaltet, deren Geschlecht in
irgendeiner Weise für den Kunden von Interesse ist. Es geht
nicht darum, die Interessen des Kunden zu kritisieren,
sondern zu verstehen, was er will und wozu er die
Informationen braucht.
Dieser Standpunkt ist linguistisch (oder ggf. sogar
philosophisch) inspiriert, denn er unterstellt, daß der
Kunde Informationen verwalten möchte, für die es einen
realen Bedarf gibt und die er irgendwie ausnutzt.
Bei diesem Standpunkt ist die Frage irrelevant, wer
überhaupt Geschlechtsbegriffe bilden darf und ob man andere
zwingen darf, diese Begriffe zu benutzten. In anderen
Kontexten, namentlich in Begriffskriegen, ist diese Frage
sehr virulent und ggf. der unterschwellige Hauptstreitpunkt.
Das softwaretechnische Analyseinstrumentarium zielt darauf
und liefert Methoden dafür, die real existierende
Informationsbedarfe des Kunden genau zu verstehen, insb. die
Verwendung der Informationen in operativen Funktionen, die
ein Informationssystem unterstützen soll. Diese technischen
Funktionen entsprechen indes meist Arbeitsschritten, die
bisher manuell ausgeführt wurden, also realen Funktionen und
Handlungsmustern. In diesem Sinne sind sie Ergebnisse
empirischer Beobachtungen.
Wegen dieser empirischen Bezüge ähnelt eine
softwaretechnische Begriffsanalyse einer linguistischen
(bzw. semiotischen) oder philosophischen Herangehensweise.
Sie ist aber bzgl. der operativen Konsequenzen viel
detaillierter und genauer. Andererseits spielen hier
moralische oder psychologische Aspekte fast keine Rolle,
zumindest liefert das gängige softwaretechnische
Instrumentarium wenig oder keine Hilfsmittel zur
systematischen Behandlung dieser Aspekte.
Details einer Datenanalyse
Die softwaretechnische Bildung des Begriffs "Geschlecht"
geht also davon aus, daß Personen ein Merkmal "Geschlecht"
haben, das verschiedene Ausprägungen hat, die wiederum in
Form von Daten repräsentiert werden. Eine gründliche
Datenanalyse muß folgende Fragen beantworten:
- Wie werden diese Ausprägungen als Daten
dargestellt?
- Welche Bezüge zu und Integritätsbedingungen mit
anderen Daten sind vorhanden?
- Ist die Menge der zulässigen Ausprägungen
statisch oder dynamisch? Falls dynamisch, wer darf diese
Menge ändern?
- Sind die Daten immer sofort bekannt bzw.
eindeutig ermittelbar? (d.h. können Nullwerte auftreten?)
- Wer darf die Daten erfassen? Muß dokumentiert
werden, wer die Daten erfaßt oder geändert hat?
- Können sich Datenwerte nach ihrer Ersterfassung
ändern, wenn ja, mit ggf. welchen Restriktionen?
- In welchen Funktionen werden diese Daten
genutzt, und sind die Daten geeignet, die gewünschten
Nutzungen zu realisieren?
Der letzte Punkt, die genaue Analyse der (geplanten)
operativen Nutzungen ist sehr wichtig, hier liegt wohl der
größte Unterschied zwischen einer softwaretechnischen
Begriffsanalyse und einer linguistischen oder
philosophischen.
Die Unterstellung, daß Geschlechtsbegriffe operativ genutzt
werden, ist aber auch bei anderen Herangehensweisen
plausibel. Andernfalls wäre der mentale und operative
Aufwand zur ihrer Definition und Erfassung nicht
gerechtfertigt. Dies entspricht einer linguistischen
Sichtweise, wonach Begriffe und deren tatsächlicher Gebrauch
aufgrund von vorhandenen Kommunikationsnotwendigkeiten
entstehen und (wenn man von politischer Propaganda und
Begriffskriegen absieht) nicht frei erfunden und dann mit
Zwang oder durch Propaganda eingeführt werden.
Welche Merkmale von Personen sind
Geschlechtsmerkmale?
Die Augenfarbe, das Gewicht oder den Geburtsort einer Person
sieht man i.a. nicht als "Geschlecht" der Person an, noch
nicht einmal als Geschlechtsmerkmal, das in eine komplexere
Definition von Geschlecht eingeht. In der allgemeinen
Sprachpraxis assoziiert man mit "Geschlecht" diverse
Merkmale oder Merkmalskombinationen, die alle irgendwie mit
Fortpflanzung, Sexualität oder Paarungsverhalten zu tun
haben. Diese Bedingung ist bei den obigen Beispielen nicht
erfüllt.
Analog kann man sich fragen, ob die Anrede einer Person oder
die neuerdings von einigen Personen gewünschten Pronomen
Geschlechtsmerkmale sind. Auch wenn diese vage mit deren
Sexualität zu tun haben, wird man diese Merkmale i.a. nicht
als Geschlechtsmerkmale ansehen, sondern bestenfalls als
funktional abhängige Werte eines wirklichen
Geschlechtsmerkmals. Technisch gesehen werden solche
Merkmale erfaßt und bei Bedarf wieder 1:1 ausgegeben, mehr
passiert nicht damit, sie haben keine nichttrivialen
Nutzungen.
Die häufigsten und wichtigsten nichttrivialen Nutzungen von
Geschlechtsmerkmalen sind Klassifizierungen von Personen und
die
unterschiedliche Behandlung von Personen in den
so definierten Kategorien.
Anders ausgedrückt werden hier Taxonomien gebildet. Der
zugehörige Geschlechtsbegriff ist definiert durch eine
flache oder in Ausnahmefällen hierarchisch strukturierte
Menge von Bezeichnern für Kategorien (Ausprägungen des
Geschlechts bzw. kurz "Geschlechter"). Die Kategorien sind
disjunkte Zerlegungen der Gesamtpopulation oder der
jeweiligen übergeordneten Kategorie.
Inkompatibilität der
Geschlechtsbegriffe in verschiedenen
Anwendungsfällen
Ein großer Teil des Streits um dem Begriff Geschlecht rührt
daher, daß in unterschiedlichen Anwendungsfällen
aus
sachlichen Gründen unterschiedliche Kategorisierungen
von Personen benötigt werden und dadurch untereinander
inkompatible Geschlechtsbegriffe entstehen. Beispiele
hierzu:
-
Wenn (Evolutions-) Biologen Vererbung oder sexuelle
Selektion studieren und hierzu z.B. Daten über Individuen
einer Population analysieren, dann benötigt man i.a. 3
Kategorien: weiblich (Eiproduzent), männlich
(Samenproduzent), unfruchtbar bzw. allgemeiner nicht
fortpflanzungsfähig.
Anmerkung zur häufig betonten
Binarität des reproduktiven Geschlechts:
Eine erfolgreiche menschliche Reproduktion ist nur
möglich, wenn eine Eizelle und eine Samenzelle "vereinigt"
werden (das Vereinigen ist im Detail betrachtet ein sehr
komplizierter Prozeß, außerdem müssen vor und nach der
Vereinigung viele weitere Bedingungen für eine erfolgreiche
Reproduktion erfüllt sein). Bezugsrahmen des Begriffs
reproduktives Geschlecht ist also ein Modell (im
Sinne von Stachowiak) des Reproduktionsprozesses, in dem
Abstraktionen von Menschen die Rolle des Ei- oder des
Samenproduzenten spielen. Menschen werden in diesem Modell
auf die biologischen Funktionen reduziert, die bei der
Fortpflanzung auftreten. In diesem Bezugsrahmen ist der
Geschlechtsbegriff inhärent binär.
Ein anderer Bezugsrahmen liegt vor, wenn man
reproduktionsbezogene Daten über eine komplette
Population erfassen will. Darin können Personen
vorkommen und müssen erfaßt werden, die infolge von
Chromosomenanomalien, Unfällen oder Krankheiten prinzipiell
keinen Nachwuchs haben können.
Als reproduktionsfähig gelten Personen in der Population,
die die körperlichen Voraussetzungen haben, die Rolle des
Ei- oder Samenproduzenten ausüben zu können, oder die diese
Voraussetzungen hatten (im Alter) oder die sie
voraussichtlich haben werden (vor der Pubertät). Auf diese
Personen wird die jeweilige Rollenbezeichnung aus dem
Bezugsrahmen "abstraktes Modell" übertragen. Die
Rollenbezeichnungen bleiben zwar gleich, wegen des anderen
Bezgsrahmens haben sie aber eine Bedeutung: sie sind
Bezeichner von Kategorien in einer Taxonomie, keine
Rollenbezeichnungen in einem abstrakten Modell der
menschlichen Reproduktion.
Bei unfruchtbaren Personen ist eine solche Zuordnung nicht
möglich. Beim Bezugsrahmen "Population" ist daher eine
weitere, dritte Kategorie "unfruchtbar" - die man ggf.
weiter nach den Ursachen untergliedern kann - unverzichtbar.
Eine binäre Kategorisierung ist hier nicht zulässig, man
braucht mindesxtens drei Kategorien.
Personen, die in die Kategorie "unfruchtbar" fallen, spielen
für die Themen, die bei der Vererbung bzw. Evolution
interessieren, i.a. keine Rolle. Anders selektiert man hier
die betrachtete Population mental oder technisch vor. Die 3.
Kategorie wird daher in solchen Kontexten regelmäßig nicht
als "ein Geschlecht" angesehen. Gegen die Bezeichnung dieser
Kategorie als "ein Geschlecht" spricht ferner, daß der
Begriff Geschlecht normalerweise unterstellt, daß eine
Person des Geschlechts X Nachkommen des Geschlechts X (und
anderer Geschlechter) erzeugen kann. Das ist bei
unfruchtbaren Personen nicht der Fall.
-
Sexualmediziner, die Chromosomenanomalien und dadurch
verursachte Erbkrankheiten behandeln, unterscheiden ca. 10
verschiedene Chromosomenkonfigurationen (sog.
Karyotypen). Die Karyotypen 46,XX bzw. 46,XY werden oft als
"Frau" bzw. "Mann" bezeichnet. Diese Kategorien sind aber
nicht identisch mit den Kategorien "Frau" bzw. "Mann" beim
Fall (a).
-
Eine Partnervermittlungsagentur, ein Verhaltensbiologe,
ein Geschlechtersoziologe und jeder, der die
Verpartnerungspräferenzen von Menschen erfassen will, wird
bzgl. der Sexualität wenigstens 4 Kategorien unterscheiden:
heterosexueller Mann, heterosexuelle Frau, (männlicher)
Homosexueller und Lesbe. Diese 4 Kategorien werden auf Basis
von zwei Geschlechtsmerkmalen gebildet: dem eigenen Phänotyp
der Person (männlich bzw. weiblich) und dem Phänotyp anderer
Personen, der als sexuell attraktiv angesehen wird und der
zu meßbaren biologischen Reaktionen, u.a. Hormonausstößen,
führen kann (Homophilie, Gynophilie).
Noch komplizierter wird es, wenn wie oben diskutiert Frau
und Transfrau oder nichtbinäre Personen als eigene
Kategorien gelten, weil sie eigene Verpartnerungsverhalten
haben. Als eigene Kategorien hinzu kommen ggf.
Detransitionierer, die zum ursprünglichen Geschlecht
zurückgekehrt sind, aber infolge der Behandlungen nicht mehr
fortpflanzungsfähig sind und deshalb ggf. nicht mehr als
Partner akzeptiert werden.
Entsprechende Taxonomien werden oft nicht mit "Geschlecht"
bezeichnet, sondern mit "Gender" oder "sexuelle
Orientierung". Die Wahl dieser Bezeichnung ändert aber
nichts daran, daß es sich um einem Geschlechtsbegriff
handelt.
Diese 3 Beispiele (man findet leicht weitere) für
Geschlechtsbegriffe bzw. sexualitätsbezogene Taxonomien
reichen bereits für zwei wesentliche Erkenntnisse aus:
-
Die Taxonomien sind unabhängig voneinander, oder anders
gesagt inkompatibel. Es ist hier unerheblich, daß
einige Kategorien in den Taxonomien statistisch stark
korrelieren, z.B. "(reproduktive) Frau" - "46,XX" -
"heterosexuelle Frau". Für die unterschiedlichen
Informationsbedürfnisse in den verschiedenen
Anwendungsfällen ist jeweils nur die passende Taxonomie
akzeptabel.
-
Selbst wenn zufälligerweise in zwei verschiedenen
Taxonomien Kategorien mit dem gleichen Bezeichner vorkommen,
sind die gleich benannten Kategorien nicht dasselbe, weder
definitorisch noch hinsichtlich der gemeinten
Personenkollektion.
Die Verwendung einer Kategorie außerhalb ihrer Taxonomie,
also außerhalb ihres zugehörigen Anwendungsfalls, ist ein
Kategorienfehler - dies gilt auch dann, wenn die beiden
Kategorien den gleichen Bezeichner haben (der Fehler fällt
leider nicht sofort auf).
"Mann" und "Frau" als Kategorienfehler
Die zweite vorstehende Erkenntnis bedeutet: es gibt - ein
gewisses Maß an Präzision vorausgesetzt - keine
universellen, in beliebigen Taxonomien anwendbaren
Geschlechtskategorien. Dies gilt insb. für die als
"Mann/männlich" und "Frau/weiblich" bezeichnete Kategorien.
Die Verwendung dieser Bezeichnungen im Sinne universeller
Kategorien ist ein Kategorienfehler.
Dieser Kategorienfehler tritt leider sehr häufig auf.
[Steinhoff 2021]
beschreibt mehrere Fälle, in denen "Mann/männlich" und
"Frau/weiblich" als Bezeichner für universelle
Geschlechtskategorien (also für "Geschlechter") benutzt
werden und der Eindruck entsteht, daß die Autoren "nicht
wissen, wovon sie reden". In praktisch allen diesen
Beispielen sind die Probleme dadurch verursacht, daß
versucht wird, mit den universellen Geschlechtskategorien
"Mann" und "Frau" zu argumentieren. Bei den anderen
Geschlechtskategorien in den o.g. Taxonomien, z.B. Lesbe,
tritt dieser Fehler nicht auf, weil er sofort erkannt wird.
Teilweise werden universelle Geschlechtskategorien
stillschweigend vorausgesetzt, also implizit gebildet.
Teilweise wird vage angedeutet, wie man eine universellen
Taxonomie bilden könnte: es ist von Geschlecht als einem
"mehrdimensionalen Konstrukt" die Rede oder es wird die
"Kombination mehrerer, ganz unterschiedlicher Eigenschaften"
vorgeschlagen. Wenn man für eine Kollektion von Personen die
Informationen für alle 3 obigen Anwendungsfälle gleichzeitig
verwalten wollte, müßten die Daten in der Tat 3
Geschlechtsattribute mit der jeweiligen Kategorisierung
enthalten, weil die Werte unabhängig voneinander sind. Dies
sieht aus wie ein mehrdimensionales Konstrukt, das
unterschiedliche Eigenschaften kombiniert. Leider ist die
Kombination dieser Eigenschaften aus verschiedenen
Taxonomien für nichts brauchbar, insb. nicht für die
vorhandenen Anwendungsfälle: diese können nur die ihnen
zugehörigen Daten sinnvoll interpretieren. Die Kombination
der Werte entspricht mathematisch gesehen der Bildung des
Kreuzprodukts der Wertebereiche, für die resultierende neue
Taxonomie gibt es keinen zugehörigen Anwendungsfall.
Warum dieser - eigentlich offensichtliche - Kategorienfehler
so häufig auftritt, ist ein separates Thema. Es kann hier
nicht vertieft werden, zumal über vieles nur spekuliert
werden kann. Man wird jedenfalls die begrifflichen Probleme
nicht loswerden, solange man an der Vorstellung von
universellen Geschlechtskategorien festhält.
Streit um die Bezeichner für Geschlechtsbegriffe bzw.
sexualitätsbezogene Taxonomien
Selbst dann, wenn man sauber eigenständige Taxonomien
bildet, kann das Problem auftreten, daß die Taxonomien als
solche alle mit "Geschlecht" bezeichnet werden. Ein Streit
hierüber kann i.d.R. leicht geschlichtet werden, indem man
auf Bezeichnungen wie "biologisches / reproduktives /
chromosomales / hormonelles Geschlecht" und andere
ausweicht.
Dieses Problem sollte nicht verwechselt werden mit dem viel
gravierenderen Fehler,
Geschlechtskategorien mit
zufällig gleichem Namen als identisch anzusehen.
Vergleich mit anderen methodischen
Ansätzen
Die oben im Vordergrund stehende Benutzung von
Geschlechtskategorien als Taxonomien zur Steuerung
unterschiedlicher Behandlungen ist zwar technisch motiviert,
entspricht aber regelmäßig den Unterschieden im realen,
nichtautomatisierten Verhalten bzw. der Behandlung von
Personen. Diese Verhaltensunterschiede sind typischerweise
die Antwort auf die Frage "Was bedeutet eigentlich
Geschlecht X genau?" bei einer unscharfen Begriffsbildung.
Die oben dargestellte Inkompatibilität verschiedener
Geschlechtsbegriffe und die Erkenntnis, daß sinnvolle
universelle Kategorien nicht existieren bzw.
Kategorienfehler sind, kann man ebenfalls i.w. auf andere
methodische Ansätze übertragen, soweit diese empirisch
orientiert sind und ein hohes Maß an Abbildungsgenauigkeit
anstreben. Dies ist ist aber keineswegs in allen
Wissenschaften der Fall.
Vergleich mit der Rechtswissenschaft
Ursachen für unscharfe Begriffe in Gesetzen
Gesetze und andere Regelungen sind grundsätzlich nicht
deskriptiv (also als Beschreibungen der aktuellen oder
früheren empirischen Tatsachen gedacht), sondern präskriptiv
bzw. normativ, es soll ja das künftige Verhalten der Bürger
reguliert werden. Wichtige Gesetze, angefangen beim
Grundgesetz, sollen eine lange Gültigkeitsdauer haben.
Währenddessen können sich die Verhältnisse ändern. Schon
alleine deswegen arbeiten Gesetze regelmäßig mit unscharfen
Begriffen, die eine sinngemäße Anpassung an geänderte
Verhältnisse erlauben. Sie stammen aus dem allgemeinen
Sprachgebrauch und bauen auf einem intuitiven Verständnis
auf, zumal sie einem mündigen Bürger verständlich sein
sollen.
Ein anderer wichtiger Grund für Unschärfen liegt darin, daß
gesetzliche Regelungen Machtverhältnisse repräsentieren und
sich der Gesetzgeber, insb. die regierenden Parteien, über
den Regelungsgehalt nicht einig sind. Ungelöste
Machtkonflikte werden dann ggf. dadurch gelöst, daß man
mittels unscharfer Formulierungen den Regelungsgehalt nicht
klar definiert, die wirkliche Festlegung damit auf die
Rechtsprechung verlagert, womit man außerdem Zeit gewinnt.
Wegen der vorstehenden Gründe kann die Benutzung
universeller Geschlechtskategorien, die im Grundgesetz und
vielen anderen Gesetzen vorliegt, gerechtfertigt erscheinen.
Durch Sonderregelungen oder Richterrecht würden die
universellen Geschlechtskategorien Mann und Frau faktisch in
Einzelfällen ergänzt werden durch weitere Sonderfälle (die
aber keinen Namen haben).
Interpretation von Gesetzestexten
In Fällen, wo eine genaue Interpretation der Gesetzestexte
erforderlich ist, wird regelmäßig auf andere Gesetze oder
Gerichtsentscheidungen ("Richterrecht") zurückgegriffen. Was
dabei herauskommt, ist Verhandlungssache und kann von
politischen Machtverhältnissen abhängen. Klar dürfte
jedenfalls sein, daß informatische Begriffanalysemethoden
oder linguistische Textanalysemethoden nicht geeignet sind,
die wahrscheinliche Bedeutung von Gesetzestexten zu
erschließen.
Diese Beobachtungen gelten besonders ausgeprägt beim
Themenkomplex Gleichberechtigung von Mann und Frau. Der
Begriff Gleichberechtigung (von Mann und Frau) gilt als
Musterbeispiel dafür, wie ein Begriff vollkommen
pervertiert, also in sein Gegenteil verwandelt werden kann.
Bei einem intuitiven, umgangssprachlichen Textverständnis
bedeutet er, daß der Gesetzgeber in seiner Gesetzgebung
Männern und Frauen keine Sonderrechte geben darf, sondern
gleiche Rechte und Pflichten geben muß. In der heutigen,
feministisch geprägten Rechtsauslegung bedeutet er das
genaue Gegenteil, nämlich daß Frauen rechtliche Privilegien
eingeräumt werden können oder sogar infolge eines
angeblichen allgemeinen "Gleichstellungsgebots" (das
vollkommen willkürlich nur auf ausgewählte soziale
Differenzen bezogen wird) müssen und daß die zahllosen
existierenden Gesetze und Regelungen, die jetzt schon Frauen
rechtliche Privilegien einräumen, grundgesetzkonform sind.
Auswirkungen des kommenden Selbstbestimmungsgesetzes
Die jetzt schon vorhandene Beschädigung des Begriffs
Gleichberechtigung (im Sinne der Pervertierung der
umgangssprachlichen Bedeutung) in Art. 3 GG wird im
kommenden Selbstbestimmungsgesetz voraussichtlich ausgedehnt
auf die Begriffe Mann und Frau.
Viele der heutigen Sonderrechte von Frauen (kein Wehrdienst,
geringere Anforderungen in Berufen, die viel Körperkraft
erfordern, Mutterschutz usw.) werden durch biologische
Unterschiede begründet, bei denen Frauen "Nachteile" haben,
besonderen Belastungen in einer Schwangerschaft ausgesetzt
sind o.ä. Dies entspricht dem Grundsatz, Gleiches gleich
und Ungleiches ungleich zu behandeln. Die so begründeten
Sonderrechte wird man Transmännern kaum aberkennen können,
bei Transfrauen entfällt umgekehrt die biologische
Begründung der Ungleichbehandlung.
Durch die frei Wahl des juristischen Geschlechts im
kommenden Selbstbestimmungsgesetz wird die bisher
grundsätzlich biologische Kategorisierung von Personen
abgeschafft und durch eine Kategorisierung anhand einer
Selbstzuschreibung, die auf keinerlei objektiv meßbaren
Kriterien beruht, ersetzt. Durch den fehlenden biologischen
Bezug geht aber auch die Ungleichheit und damit die
Begründung der ungleichen Behandlung verloren.
Um keine massive Verletzung des (Un-) Gleichheitsprinzips zu
verursachen, müssen das Grundgesetz und alle Gesetze, die
Frauen Privilegien einräumen, dahingehend geändert werden,
wieder einen Bezug zu den biologischen Unterschieden
herzustellen. Damit wird aber implizit eine eigene Taxonomie
geschaffen, die bis auf die Bezeichnungen der Kategorien
identisch identisch mit dem gerade abgeschafften
Geschlechtsbegriff ist.
Festhalten kann man jedenfalls,
daß der juristische Geschlechtsbegriff zu einer weiteren
Taxonomie führt, die nicht mit den drei oben genannten
Anwendungsfällen und weiteren kompatibel ist.
Das Fatale an der juristischen Begriffszerstörung ist, daß
die Rechtswissenschaft wegen ihrer Verbindungen zu
politischen Machtstrukturen weitaus mehr Einfluß auf die
öffentliche Meinungsbildung als andere Wissenschaften hat,
zugleich aber definitionsgemäß eine Wissenschaft ist, die
Begriffszerstörung also unter die Wissenschaftsfreiheit
fällt und damit als Präzendenzfall dient, der
Begriffszerstörungen generell sanktioniert.
Probleme mit dem 3. Personenstand "divers"
Das Grundgesetz bzw. die ganze Rechtsordnung unterscheidet
vom Grundsatz her Männer und Frauen. Beide Begriffe werden
nicht explizit definiert, historisch gesehen ist aber
offensichtlich eine biologische Definition unterstellt
(reproduktives Geschlecht). Für Personen, die anhand des
Phänotyps nicht eindeutig klassifiziert werden können, wurde
zusätzlich die Kategorie "divers" geschaffen.
Das Grundgesetz und diverse Bundes- und Landesgesetze
verschaffen Frauen eine Vielzahl von rechtlichen Privilegien
(keine Pflicht zum Wehr- oder Ersatzdienst, besondere
Unterstützung von Müttern (nicht von Vätern), der große
Arbeitsmarkt der Gleichstellungsbeauftragten ist fast
komplett für Frauen reserviert u.v.a.m.). Bei diversen
Personen ist (mir) zunächst unklar, welche der vielen
Sonderrechte von Frauen beansprucht werden können.
Transmänner, die schwanger werden, können mit Sicherheit
fast alle Sonderrechte von Müttern beanspruchen. Unklar ist.
ob sie auch Frauenbeauftragte werden können. Sofern diverse
Personen nur einen Teil der Sonderrechte von Frauen
beanspruchen können, müßten operational gesehen die
Kategorien "männlich divers" und "weiblich divers"
unterschieden werden (unter der Annahme, daß "männlich
divers" nicht äquivalent zu "männlich" ist, weil alle
diversen Personen z.B. Sonderrechte auf spezielle
medizinische Fürsorge haben).
Begriffliche Inkonsistenzen durch das kommende
Selbstbestimmungsgesetz
Das von der Ampelkoalition angekündigte
Selbstbestimmungsgesetz wird vermutlich ein Kompromiß
zwischen den beiden inhaltlich ähnlichen Gesetzesentwürfen
von FDP und Grünen sein, die am 19.05.2021 vom Deutschen
Bundestag abgelehnt wurden.
Es verschafft Transsexuellen eigene Privilegien, und zwar in
Form des Offenbarungsverbots, bei dem z.Z. nur spekuliert
werden kann, für wen es in welchen Situationen gilt.
Zumindest gelten dürfte es für Beamte in Standesämtern oder
in Prüfungsämtern oder Schulen, die Zeugnisse und andere
Dokumente nachträglich umgeschrieben haben, eventuell auch
für Unternehmen und Privatpersonen. Wegen dieser
Sonderrechte bilden Transsexuelle eine eigene Kategorie und
haben daher funktional betrachtet ein anderes juristisches
Geschlecht als Nicht-Transsexuelle. Die Speicherung eines
entsprechenden Datenwerts in einem Attribut "juristisches
Geschlecht", das allgemein lesbar wäre, würde aber gerade
das Offenbarungsverbot verletzen. Lösbar erscheint dieser
Widerspruch nur dadurch, daß die vom Offenbarungsverbot
betroffenen Personen und Institutionen eine Art gespaltene
Persönlichkeit entwickeln: in Kontexten, wo Informationen
über die Transsexualität bekannt sein müssen - z.B. bei
einem abzulehnenden erneuten Geschlechtswechsel innerhalb
der Ausschlußfrist - müssen sie von der Transsexualität
wissen, in anderen Kontexten müssen sie sie leugnen, und
zwar selbst im Fall einer offenen oder schlecht kaschierten
Transsexualität.
Genaugenommen kann schon das Wissen, wann welcher Kontext
vorliegt, und die Ahndung von Verstößen gegen das
Offenbarungsverbot eine Verletzung des Offenbarungsverbots
darstellen. Wenn z.B. eine Person A behauptet, Person B sei
transsexuell, dann kann A wegen groben Unfugs o.ä. belangt
werden, wenn Person B nicht transsexuell ist. Ist Person B
hingegen tatsächlich transsexuell, dann würde die gleiche
Handlung viel strenger verfolgt und bestraft werden. Sofern
diese Strafverfolgung nämlich nicht völlig isoliert von der
Öffentlichkeit stattfindet, offenbart sie erst recht die
Transsexualität.
Quellen
-
Elliot Ackerman, et al.: A Letter on Justice and Open Debate. Harper's Magazine, 07.07.2020.
-
Dan Diamond, Samantha Schmidt: Rachel Levine, historic transgender nominee,
confirmed as assistant health secretary. The Washington Post, 24.03.2021.
-
Scott Newgent: Forget What Gender Activists Tell You. Here's What
Medical Transition Looks Like. Quillette, 06.10.2020.
-
Steven Pinker: The Blank Slate: The Modern Denial of Human
Nature. Penguin Books, 528 S., 2002.
-
Steven Pinker: William James Book Award - The Blank Slate. The General Psychologist 41:1 - Spring 2006, p.1-8,
Society for General Psychology, 2006.
-
Nyke Slawik und Tessa Ganserer: Erste offen lebende
Trans-Frauen ziehen in den Bundestag. RTL, 28.09.2021.
-
Uwe Steinhoff: Auf den Leim gegangen. Cicero, 27.10.2021.